Der Kinderdieb
Knie ansetzte.
Er steckte eine Fackel an und schlurfte damit zu den Zellen. Mit seinem einen Auge starrte er die Jungen hämisch an. »Er tut mir in den Knochen weh. Dieser Nebel. Geht mir bis aufs Mark, die Kälte.«
Nick ging auf Abstand, denn er ertrug den Anblick der vernarbten Augenhöhle kaum.
»Gar nicht hübsch, was?«, sagte der Wächter mit zahnlosem Grinsen. »Deine Leute ham mir das angetan.« Er zeigte auf das bloßliegende Loch. »Beim ersten Mal ham sie mein Auge erwischt. Gibt Schlimmeres. Gott hat mir ja noch eins als Ersatz gegeben. Beim zweiten Mal dann den Arm. Was soll’s. Ich lass mir von so ’ner läppischen Verstümmelung doch nich den Tag verderben, hä? Und dann bin ich in eine von den kleinen Dämonenfallen getreten, die ihr Jungs so hübsch bastelt, und die hat mir den Unterschenkel abgetrennt. Ab da bin ich’s dann ein bisschen langsamer angegangen.«
Der alte Wachtposten legte den Kopf in den Nacken und schrie wie ein Esel. Als Nick ihn nur verständnislos anstarrte, hörte er schließlich auf.
»Äh … verzeih mein Gequatsche. Wenn man nicht lernt, dem Leben ins Gesicht zu lachen, bringt es einen um, so viel weiß ich inzwischen.« Er musterte Nick von Kopf bis Fuß. »Siehst selbst ganz schön verdrossen aus. Wette, du könntest was zu trinken brauchen, hä?« Er hüpfte ans Feuer und goss Wasser aus einem Tonkrug in einen verbeulten Blechbecher. Dann öffnete er eine kleine Klappe in der Lattentür und reichte Nick den Becher.
Der Junge zögerte.
»Mach schon, nimm. Ich beiß dich nich.«
Nick nahm das Wasser, trank es aus, wischte sich mit dem Arm übers Gesicht und gab den Becher zurück. »Danke.«
Der Wachmann legte die Hand an das, was von seinem Ohr übrig war. »Hä?«
»Danke«, wiederholte Nick, diesmal lauter.
»Aye. Keine Ahnung, warum sie euch Jungs so mies behandeln müssen. Wenn’s nach mir ginge, würd ich euch die Köpfe abschlagen und fertig. Aber wer hört schon auf den räudigenAlten? Nee, die müssen sich alle aufspielen. Viel zu beschäftigt damit, sich gegenseitig als Sünder zu verdammen. Da will einer gläubiger sein als der andere. Ein Haufen blöder Idioten, allesamt.«
Der Wachmann schob eine Hand durch die Klappe und fuhr mit den schuppigen Fingern sanft über Nicks Arm. Der Junge wich zurück.
Der Wachmann blickte auf. »Ah, ’tschuldigung. So ein verlaustes altes Aas sollte mit seinen dreckigen Pfoten wohl keine Jungs betatschen.« Plötzlich wirkte er peinlich berührt. »Wollte dich nicht anmachen. Nee. Mein kleiner Freund ist seit ’nem halben Jahrhundert zu nichts mehr gut als zum Pissen, und selbst damit hab ich in letzter Zeit Probleme, jawoll. Wenn man schon so lange wie ich voller Schuppen ist, vergisst man, wie sich Menschenhaut eigentlich anfühlt. Weiter nichts.«
Einen Moment lang schwieg der Wachtposten und starrte in den bewölkten Nachthimmel. »Sag mal, Junge. Wie isses denn so da draußen?«
Zuerst verstand Nick nicht, doch dann begriff er, dass der Mann wissen wollte, wie es in der Menschenwelt war.
»Gibt es noch Sterne am Himmel?«
Der Junge nickte.
»Ich wünschte, ich könnt fliegen. Manchmal träume ich davon. Wenn ich fliegen könnt, dann würd ich einfach aus dem verdammten Nebel rausfliegen, und zwar jetzt gleich, mitten durch die Wolken. Ich würd einfach aufsteigen und die ganze Nacht lang die Sterne betrachten. Ich war mal Seemann, und ich kenn die Sterne besser als die Brüste meiner Frau. Sie nur noch einmal zu sehen … die Sterne, mein ich. Ich weiß nicht, ob ich heutzutage noch mal die Brüste meiner Frau sehen will, aber die Sterne noch mal zu sehen, das würde mir reichen. Dann könnt ich glücklich sterben.«
Der Wachtposten schob die Klappe wieder zu. Er überprüfte die Kette, mit der die Tür abgesperrt war, stand auf und schlenderte zurück ans Feuer. Dann legte er sich neben die Flammen, bettete den Kopf auf eine zusammengerollte Decke und starrte zu den Wolken hinauf.
Nick vermutete, dass der räudige Alte den Himmel nach einem Schimmern, einem Flackern, nach irgendeinem Anzeichen von Sternen absuchte.
Obwohl es wahrlich viel gab, worüber Nick verbittert und wütend sein konnte, war er immer noch dazu in der Lage, Mitleid mit diesem alten Mann zu empfinden, dessen einziger Wunsch es war, einen Stern zu sehen. Irgendwie war es für den Jungen einfacher, mit diesem Fremden Mitleid zu haben, als an seine eigene Mutter zu denken, an Abraham, Sekeu, Blutrippe oder sich selbst. Diese
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