Der Kinderdieb
weißgoldene Gewänder, und um ihren Hals hing ein Bronzestern an einer schlichten Goldkette.
»Das hier ist der Wald von Myrkvior«, sagte sie. »Er ist nicht Teil deines Reiches. Kehr in dein Loch zurück und verrotte mit deinem Drecksgetier.«
Die Sumpffrau grinste höhnisch. »Was weißt du schon vom Verrotten? Du mit deiner toten, kalten Möse.«
Die Augen der weißhaarigen Frau blitzten himmelblau auf.
Die Sumpffrau lachte. »Eine unfruchtbare Fruchtbarkeitsgöttin. Kein Wunder, dass du Vaters Stimme nicht mehr hörst.«
Ein tiefes Grollen drang aus der Kehle der weißhaarigen Frau, ein Laut, bei dem sich Peter sämtliche Nackenhaare aufstellten. Sie trat einen Schritt vor und fletschte lange, hundeartige Zähne. Mit jeder Sekunde wirkte sie mehr wie ein Tier und weniger wie ein Mensch.
»Ach, hör auf rumzustänkern, Modron«, sagte die Sumpffrau. »Wenn du dieses Geschöpf haben möchtest, dann nimm es.« Die Miene der Sumpffrau veränderte sich. Peter war sich nichtsicher, ob er Freundlichkeit oder Mitgefühl darin las – vielleicht beides. »Wie viele?«, fragte sie dann. »Wie viele brauchst du noch, um das Loch in deinem Herzen zu stopfen? Du könntest dir alle Kinder aus unserer und ihrer Welt holen, und es würde dir deinen kleinen Jungen doch nicht zurückbringen.«
Schmerz, tiefer Schmerz senkte sich wie ein Schatten über das Gesicht der weißhaarigen Dame.
Die Sumpffrau wandte sich zum Gehen, doch dann hielt sie inne und betrachtete Peter. »Sei vorsichtig, mein Kleiner. Ich will nur dein Auge. Doch sie … sie nimmt dir deine
Seele
.« Die Sumpffrau drehte sich weg und verschwand im Wald, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
Die drei Schwestern wichen langsam zurück, ohne dabei den Blick von Peter abzuwenden. Bevor die Letzte von ihnen ging, zeigte sie noch auf Peter und ihr Auge, um dann eine gekrümmte Klaue in die Höhe zu heben.
Die Frau mit den himmelblauen Augen schaute Peter an. Alle sahen ihn an. Er hielt nach einem Fluchtweg Ausschau.
»Hab keine Angst, mein Junge«, sagte der ältere Elf. »Jemand, der der Hexe höchstpersönlich ein Auge gestohlen hat, hat von uns nichts zu befürchten.« Er bedachte Peter mit einem verschmitzten, bewundernden Lächeln.
Die anderen Elfen nickten zustimmend und steckten ihre Schwerter weg.
Der alte Elf streckte die Hand aus. »Feldwebel Drael von der Leibgarde der Dame, stets zu deinen Diensten.« Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Das Lächeln des Elfen gefiel Peter. Er schüttelte ihm die Hand und erwiderte es. »Ich bin Peter.«
»Dies«, sagte der Elf und wies mit einem Arm auf die Frau, »ist die Dame Modron, Tochter des Avallach. Sie ist die Dame vom See und die Königin von ganz Avalon.«
Eine Königin? Peter war sich nicht sicher, was genau eine Königin war, aber danach zu urteilen, wie die Elfen mit ihr umgingen, war sie wohl sehr wichtig. Er musterte die Frau genauer. Mit ihrer Feingliedrigkeit und ihrem langen, dünnen Hals kam sie ihm zerbrechlich vor, dennoch strahlte sie Kraft aus. Vielleicht lag es an ihrem selbstsicheren Gang, an der Art und Weise, wie sie durch den Wald schwebte und alles ansah, als gehörte es ihr. Sie war anmutig und elegant, aber für Peters Geschmack lagen ihre Augen etwas zu weit auseinander, und ihr Gesicht war zu langgezogen, was sie tierhaft, sogar unheimlich erscheinen ließ.
»Also, Peter«, sagte Drael. »Wie bist du Ginny Grünzahn in die Fänge geraten?«
»Wem?«
»Der Hexe.«
»Er ist kein Junge.« Die Dame musterte Peter. »Seht euch nur mal seine Ohren an. Er trägt Feenblut in sich.«
»Was ist er dann?«, fragte Drael.
Die Lady betrachtete Peter erneut. »Er ist ein Rätsel. Ein hochinteressantes Rätsel.« Sie musterte Peters Brust. »Er ist gezeichnet.«
Der Junge schaute an sich herab. Er war mit Blut und Schlamm bedeckt. Aus den Schnitten in seiner Seite lief Blut, die Insektenstiche waren rot und geschwollen, und der Biss um seine Brustwarze verfärbte sich schwarz. Er war so auf seine Flucht konzentriert gewesen, dass ihm all das nicht einmal aufgefallen war, doch jetzt fingen seine Verletzungen an wehzutun, und die an seiner Brust brannte fürchterlich. Auch seine Hand brannte. Er streckte sie aus und sah, dass die Handfläche feuerrot und von Blasen übersät war.
Die Dame beugte sich vor und berührte sanft den Rand der Bisswunde. Peter zuckte zurück und schnappte zischend nach Luft.
»Komm«, sagte sie. »Wir müssen die Wunde versorgen, sonst
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