Der Kinderdieb
nicht ab, was als Nächstes geschah. Er rannte geduckt in den Tunnel und krabbelte geschwind wie ein Maulwurf den Schacht hoch.
»Schnappt ihn!«, jaulte sie. »Schnappt ihn!
SCHNAPPT IHN!
« Die Stimme der Frau fegte durch den Tunnel und ließ Blätter, Erde und Käfer in einem Schwall heißer Luft an ihm vorbeifliegen.
Alles, was fleuchte und kreuchte, die Höhle selbst, schien in diesem Moment aufzuheulen. Und dann stürzte sich all das auf ihn, einschließlich der Wurzeln, die ihn an Armen und Beinen packten. Der Tunnel zog sich um ihn zusammen wie der würgende Hals eines gigantischen Ungeheuers. Kleine Wesen lösten sich von der Wand und sprangen ihn an – Käfer und Spinnen. Er spürte Stiche und Bisse. Als er die Oberfläche erreichte, stürzten sich die Geschöpfe mit den Fledermausflügeln wie ein Hornissenschwarm auf ihn und stachen ihn mit ihren Schwänzen, sodass er heulend und schreiend ins Dickicht davonstürzte. Peter rannte schneller, als er je zuvor in seinem Leben gerannt war. Er hatte keine Ahnung, wohin, er wollte einfach nur so weit wie möglich weg von dieser Frau, diesem Ungeheuer und all den stechenden kleinen Wesen.
Er hörte Geheul und riskierte einen Blick über die Schulter. Die drei Mädchen folgten ihm. Sie rannten mit großen, kraftvollen Sätzen auf allen vieren. Lange, spitze Zungen hingen ihnen zwischen den scharfen Hundezähnen hervor. Ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren, und sie holten schnell auf.
Peter brach durchs Gestrüpp und stand plötzlich auf einem kleinen Pfad, dem er folgte. Es ging bergauf, langsam ließ er den Sumpf hinter sich und spürte wieder festen Boden unter den Füßen.
Da trat eine Gestalt vor ihm auf den Weg. Ein Mann? Peter prallte kopfüber mit ihm zusammen, sodass sie beide auf eine kleine, grasbewachsene Lichtung stolperten. Der Junge sprang auf und wollte sofort wieder losrennen, da bemerkte er weitere Männer, fünf, nein sechs. Sie richteten lange, schlanke Schwerterauf seine Brust. Peter schaute sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um.
»Holla. Warte mal«, sagte der Mann, mit dem Peter zusammengeprallt war. »Was soll dieser Unfug?«
Auf den zweiten Blick wurde dem Jungen klar, dass es sich nicht um Männer handelte, zumindest nicht um die Sorte Männer, der er bisher begegnet war. Tatsächlich handelte es sich um Elfen, doch damals wusste Peter noch nichts von diesen Wesen. Die Elfen vor ihm waren sehr viel kleiner als Menschen, kaum größer als Kinder, sodass sie ihn gerade mal um einen Kopf überragten. Ihre Gliedmaßen waren lang und ihre Gesichter schmal, beinahe damenhaft, außerdem hatten sie kleine goldene Schlitzaugen, die schräg und weit auseinander über ihren hohen Wangenknochen standen. Ihre Ohren waren spitz, und ihre Haut schimmerte kreideweiß. Das Haar hing ihnen in langen Zöpfen auf den Rücken. Sie trugen enge Kleidung, die aussah wie aus Blättern und Borke gewoben.
»Gebt ihn uns zurück«, erklang die Stimme eines der kleinen Mädchen. Die drei standen keine fünf Meter entfernt am Rand der Lichtung.
Die Elfen richteten ihre Schwerter nun auf die Schwestern.
»Wir haben ihn durch das Tor geholt«, sagten die Mädchen. »Er gehört uns.«
»Das bezweifle ich«, sagte der Elf, mit dem Peter zusammengeprallt war.
Dem Jungen fiel auf, dass er älter aussah als die anderen. Sein Haar war schlohweiß, und um die Augen hatte er tiefe Falten. Der Elf stand auf, zog sein Schwert und trat vor Peter.
Die Schwestern fauchten und fuhren mit den Klauen durch die Luft, als könnten sie es nicht erwarten, ihrer Beute das Fleisch von den Knochen zu reißen.
»Er gehört mir«, erklang eine tiefe, kehlige Stimme hinter den Mädchen.
Die Elfen wechselten Blicke.
Die Frau betrat die Lichtung und schirmte die Augen mit einer Hand ab. »Er ist mir etwas schuldig.« Sie ließ die Hand sinken und gab den Blick auf die offene, blutige Wunde in ihrer leeren Augenhöhle frei.
Einige der Elfen schnappten nach Luft, doch sie blieben standhaft.
»Ihr seid auf meinem Land, ihr alle. Gebt mir ein Auge von dem Jungen, dann lasse ich euch wohlbehalten ziehen.«
»Unsinn«, gab eine Stimme hinter Peter zurück.
Eine weitere Frau betrat die Lichtung. Sie war ein wenig größer als die Sumpffrau, schlank und feingliedrig, fast zerbrechlich, und ihre glatte Haut war so weiß, dass sie beinahe blau wirkte. Ihr langes weißes Haar war zurückgekämmt und gekrönt von einem Kranz aus Stechpalmenblättern. Sie trug schimmernde
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