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Der Kinderdieb

Titel: Der Kinderdieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brom
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nach vorn und sah einen hochgewachsenen, hübschen Jungen mit hoher Stirn und dunklen, missmutigen Augen, der zielstrebig auf sie zukam.
    »Da ist aber jemand gar nicht glücklich, meine Dame«, flüsterte Drael.
    Die Dame seufzte. »Wirkt er denn jemals glücklich?«
    Der Junge war ein gutes Stück größer als Peter und auf Augenhöhe mit der Dame. Peter schätzte, dass er mehrere Jahre älter war als er selbst. Sein dunkles Haar war direkt über den Ohren zu einem Topfschnitt gestutzt und glänzte wächsern. Jede Strähne lag an ihrem Platz. Er trug eine Steppjacke mit Goldsaum und langen Pluderärmeln, die aus edlem Webstoff genäht war. Dazu trug er schwarze Strumpfhosen und goldene, spitze Schuhe. Kein einziges Staubkorn, keine Spur von Verunreinigung war an ihm zu sehen.
    Der hochgewachsene Junge fertigte Peter mit einem kurzen Seitenblick ab und wandte sich dann der Dame zu.
    »Modron, du solltest …«
    »Ulfger«, unterbrach ihn die Dame. »Nicht heute. Ich möchte das jetzt nicht von dir hören.«
    »Du hättest vor Stunden hier sein sollen«, fuhr er in strengem, ernstem Tonfall fort. »Hast du deine Pflichten vergessen?«
    »Nein«, sagte die Dame sichtlich verärgert. »Ich habe meine Pflichten nicht vergessen. Und ich werde mich nicht auf diese Diskussion einlassen. Nicht heute.«
    »Das Schicksal von Avalon steht auf dem Spiel, und der Rat vertrödelt seine Zeit mit Trinken, Tratschen und ordinären Rate spielen.« Er starrte die Dame anklagend an. »Sie brauchen Führung.«
    »Ulfger, es steht dir nicht an, mir zu …«
    »Es steht mir sehr wohl an, Modron«, erwiderte er mit unverhohlener Verachtung. »Dieser Leichtmut, diese Possenreißerei … sie sind der Grund dafür, dass Avalon stirbt.«
    »Ach, Ulfger. Warum musst du das nur tun? Du bist ein Kind. Du solltest dich amüsieren, frei sein, Unsinn anstellen. Du …«
    »Nein, Modron! Genau
das
ist das Problem. Avalon braucht
Ordnung
und
Disziplin
.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Es braucht eine eiserne Hand, um die Attacken der Menschlinge abzuwehren. Sonst sind wir zum Aussterben verurteilt.«
    Die Dame musterte ihn traurig. »Das sind die Worte deiner Mutter. Selbst an der Schwelle des Todes muss sie ihre lange Nase überall reinstecken. Sieh nur, was sie dir angetan hat. In einem Alter, in dem dein Leben ganz und gar sorgenfrei sein sollte, krümmst du dich unter der Last ihrer Missgunst und ihrer Intrigen.«
    Ulfger errötete. »Das ist nicht wahr.«
    Die Dame schüttelte den Kopf. »Es ist meine Schuld. Ich hätte mich gegen sie durchsetzen müssen, ich hätte darauf bestehen sollen, dass du bei deinem Vater im Wald aufwächst. Deine Mutter hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um deinen ungezähmten Geist abzutöten. Ich fürchte, der Gehörnte wird seinen eigenen Sohn nicht wiedererkennen.«
    Ulfger senkte den Blick. Er wandte sich ab, dennoch bemerkte Peter den verletzten Ausdruck in seinem Gesicht.
    Die Dame nahm Peters Hand, und sie gingen an dem hübschen Jungen vorbei den Gang hinab.
     
    Sie durchquerten einen weiteren Torbogen und betraten eine große Kuppelhalle. In der Mitte der Halle befand sich ein kleines, kreisförmiges Becken, das aus dem Steinboden gehauen war. Das Wasser darin leuchtete aus sich heraus und erfüllte die ganze Halle mit einem sanften grünlichen Schimmer. In die Kuppeldecke waren ein Halbmond, Sterne und geflügelte Fische gehauen. Das Licht tanzte über die Reliefs, sodass sie an den Wänden entlangzuschwimmen schienen.
    Das Becken war von einem Dutzend halbmondförmiger Tische umgeben. Auf den zerkerbten, abgenutzten Tischplatten standen Tabletts und Schüsseln mit Wildbret, Brot, gekochten Karotten, Rüben und Maronen. Die Speisen erfüllten den Saal mit ihrem Duft. Peter atmete tief ein, und sein Magen knurrte.
    »Ich glaube, da hat jemand Hunger«, sagte die Dame.
    Peter nickte grinsend.
    Ein Mann stellte seinen Kelch ab, strich sich das Haar aus dem Gesicht und stützte einen gespaltenen Huf an die Tischkante. Er trug keine Kleidung, nur einen breiten Lederkragen mit großen Bronzeglocken. Sein Oberkörper war klein und jungenhaft, und von der Hüfte an abwärts hatte er offenbar einen struppigen Ziegenkörper. Ein langer, spitzer Ziegenbart bog sich von seinem Kinn nach oben, und zwei kurze Hörner ragten ihm aus der schrägen Stirn, an deren Spitzen jeweils eine kleine goldene Glocke baumelte. »Du kommst spät«, murrte er.
    »Auch dir einen angenehmen Abend, Hiisi«, sagte die Dame, und

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