Der Kinderdieb
Asche wie schartige Zähne. Ein Haufen geborstener Schädel war vor einer Wand aufgeschichtet. Ihre leeren Augen folgten Peter, als er an ihnen vorbeiging.
Es ist an der Zeit, dieser Sache ein Ende zu bereiten
, dachte er.
So oder so, es
muss
au fhören
.
Er schaute nach oben. Irgendwo über den tiefhängenden Wolken erleuchtete die Sonne den Himmel. Er wusste, dass es ein warmer Tag werden würde, spürte die zunehmende Luftfeuchtigkeit. Peter ließ den Blick über den grauen Schlamm und die ausgebrannten Stämme längst umgestürzter Bäume schweifen und fragte sich, ob die Sonne je wieder auf dieses gepeinigte Land herabblicken würde.
Er erklomm einen langgezogenen, sanft ansteigenden Hügel und begriff plötzlich, wo er war, als er in die Augen eines Gottes starrte. »Avallachs Schrein«, sagte er und ließ sich schwer auf einen Felsbrocken sinken. Er schaute auf die Ruinen herab. Weiter unten konnte er den Sumpf sehen. Der Teufelsbaum war nicht weit von hier, gleich hinter den Sümpfen, doch der Kinderdieb war nicht besonders begierig darauf, das Reich der Hexe zu durchqueren, zumindest nicht tagsüber.
Nicht, solange ich meine Augen noch habe
, dachte er und grinste böse.
Er betrachtete den Kopf des Gottes, einen riesigen, behauenen Granitblock, der mindestens fassgroß war. Jemand hatte ihn am Hals abgebrochen, und nun lag er auf der Seite, als lauschte er am Boden. Sein Gesicht war entstellt, mit Hackenund Hämmern zerschlagen, doch in seinen Augen lag noch immer die alte Kraft.
Der Rest der riesigen Statue stand noch, die Hände auf ewig vor der Brust verschränkt. Ringe von gesplitterten Baumstümpfen umgaben den behauenen Stein – alles, was von dem großen Apfelhain geblieben war. Als Peter die Augen schloss, konnte er die Bäume vor sich sehen, Hunderte, deren weiße Blüten sich im warmen Sonnenlicht eines weit zurückliegenden Tages wiegten.
Peter saß neben dem alten Elfen auf einem großen Feldstein. Er legte eine Hand gegen die Stirn, um seine Augen vor der Mittagssonne abzuschirmen, und blickte zu der riesigen Statue auf. Ihre Augen lagen tief im Schatten der breiten, ernsten Stirn und wachten unablässig über den Obsthain.
Apfelblüten trieben träge vorbei, schimmerten im Sonnenlicht und sammelten sich in den steinernen Gewandfalten der Statue. Die Apfelbäume um sie herum waren erfüllt vom Summen der Honigbienen, dem Flattern der Vögel und dem immerwährenden Geplapper der Wichte und Blütenfeen.
Peter folgte der Dame auf Schritt und Tritt, und er stellte fest, dass ihm der Sinn nach nichts anderem stand. Im Moment befand sie sich vor der Statue, hatte eine schlanke Hand auf ihren steinernen Fuß gelegt und sah zu ihrem ernsten Gesicht hinauf.
»Das ist Avallach«, sagte der alte Elf. »Der Gott der Heilung, Herr von Avalon. Er hat uns verlassen. Seine sterblichen Jahre auf der Erde sind schon lange vergangen. Jetzt herrscht er in der Anderwelt, und er hat seine Kinder zurückgelassen, um über Avalon zu wachen.«
»Aha«, sagte Peter abwesend.
»Die Dame Modron ist eins seiner Kinder.«
»Die Dame?«
»Ja.«
»Ist ihre Mutter auch fortgegangen?«
»Ihre Mutter? Ich glaube, die Dame hat gar keine Mutter. Auf jeden Fall nicht in dem Sinne, in dem wir uns eine Mutter vorstellen. Avallach hat seine Kinder aus den Elementen erschaffen, die ihm zu Gebote standen. Der Geist der Dame stammt aus den Flüssen, Seen und Wasserläufen. Das Wasser wird für immer ihr Lebenselixier sein. Ihr Bruder, der Gehörnte, ist aus lebenden Opfern aus Fleisch und Blut erschaffen, während ihre Schwester, die Hexe Ginny, wie ein Baum aus der Erde gewachsen ist.«
Peter blickte besorgt zu dem Elfen. »Die Hexe ist ihre Schwester? Wie ist das möglich? Sie ist so böse.«
Der Elf lachte. »Sie sind Götter«, sagte er, als würde das alles erklären.
Peter wirkte verwirrt.
»Sie sind ein Teil der Natur, und der Natur darf man niemals trauen. Sie spielen ihre Rollen und wahren das Gleichgewicht in Avalon. Keiner von ihnen würde davor zurückschrecken, jeden zu töten, der dieses Gleichgewicht bedroht. Nicht einmal die Kinder des Feenvolks sind vor ihrem Zorn sicher. Der Gehörnte zerschmettert jeden, der unaufgefordert nach Avalon kommt. Was die Hexe betrifft – du weißt ja, was sie mit Außenseitern macht. Und die Dame schützt uns alle mit ihrem Nebel. Selbst unter den Sidhe können nur sehr wenige im Nebel wandeln.«
Peter beobachtete, wie die Dame ihre Wange an den Stein legte und die
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