Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)
das für andere Dinge waren. »Haben Sie auf dem Weg durch die Straße, in der die Morrisons wohnen, ein Kind bemerkt, auf das Emilys Beschreibung passt?«
Er reichte ein Foto über den Schreibtisch und sie sah es sich genau an, bevor sie verneinte.
»Und Ihnen ist auch nichts Ungewöhnliches auf dem Anwesen der Familie Morrison aufgefallen?«
»Ich weiß gar nicht, welches das ist.«
»In einigen der Aussagen, die bei uns eingegangen sind, heißt es, dass die Frau, die gesehen wurde, besonderes Interesse an dem Haus zeigte.«
»Aber ich weiß doch gar nicht …«
»Das sagten Sie schon.«
»Wenn ich mich nicht sehr irre«, bemerkte Vivien Nathanson, »hat sich der Ton dieses Gesprächs geändert.«
»Ein kleines Mädchen ist verschwunden; das ist eine ernste Sache.«
»Und ich stehe unter Verdacht?«
»Nicht direkt.«
»Aber wenn ich aus einem bestimmten Grund um diese Zeit in der Gegend gewesen wäre, wenn ich beispielsweise Freunde in Nummer … ach, was weiß ich, achtundzwanzig oder zweiunddreißig …« Sie sah Resnicks Gesicht undbrach ab. »Das ist das Haus, stimmt’s? Zweiunddreißig. Da wohnen die Morrisons.«
Resnick nickte.
»Ich wusste es nicht.«
Er sagte nichts, aber er beobachtete sie. Ein Anflug von Beunruhigung hemmte sie jetzt in ihrem Auftreten. Das Ganze war plötzlich kein Seminar mehr.
»Aber Sie haben das kleine Mädchen nicht gesehen?«
»Nein.«
»Ein anderes kleines Mädchen vielleicht?«
»Meiner Erinnerung nach nicht.«
»Und Ihre Erinnerung ist zuverlässig?«
»Ich denke schon, ja.«
»Ist Ihnen vielleicht ein Ford Sierra aufgefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Auto würde mir, fürchte ich, höchstens auffallen, wenn es mich überfährt.«
»Das wollen wir doch nicht hoffen.«
»Aber ich habe einen Mann gesehen.«
Herrgott noch mal, dachte Resnick, was für Spielchen spielt die denn hier?
»Es könnte der sein, den Sie suchen. Im Radio wurde erwähnt, dass der Mann gejoggt ist.«
»Ja.«
»Also, ich wollte über die Straße zu dem Fußweg, der zum Kanal führt, da kam er mir entgegen und ist voll mit mir zusammengestoßen. Er hätte mich fast umgeworfen.«
Wie eben unten, dachte Resnick, da war allerdings er derjenige gewesen, der beinahe gestürzt wäre. »Sie waren in Gedanken?«, fragte er.
»Ja, sicher. Aber die größere Schuld hatte er. Er hat einfach nicht geschaut.«
»Wohin hat er denn geschaut?«
»Nach hinten, über seine Schulter.«
Resnick sah den Bogen der Straße deutlich vor sich, denWeg, den Vivien genommen hatte, und den Weg, dem der Jogger gefolgt war – ein Mann, der im Laufen über die Schulter blickte, in die Richtung, aus der er gekommen war, in Richtung von Haus Nummer 32.
Resnick spürte so etwas wie ein Frösteln und bemerkte eine neue Tonlage in seiner Stimme, als er schließlich fragte: »Können Sie uns eine Beschreibung geben?«
»Ich denke schon.«
»Eine detaillierte?«
»Ich hatte ihn nur ganz kurz im Blick.«
»Dafür aber direkt vor sich.«
»Ja, direkt.«
Resnick griff schon zum Telefon. »Ich würde vorschlagen, wir nehmen erst einmal Ihre Aussage zu Protokoll und lassen dann einen Zeichner kommen, wenn es Ihnen recht ist, der nach Ihren Angaben ein Bild anfertigen wird. So genau wie möglich. Passt Ihnen das?«
»Tja, wenn ich noch so lange hier herumsitzen muss«, sagte sie lächelnd und beugte sich vor, »dann nehme ich mir doch die Hälfte von dem Sandwich.«
29
»Ich wusste nicht, dass du das hast.«
Michael schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Diana muss es mit ihren Sachen zusammen hiergelassen haben. Aber sicher nicht mit Absicht.«
»Vielleicht hat Emily es sich einfach genommen.«
»Das kann sein.«
Es war ein kleines Plastikbändchen, das einmal am Bein oder Arm eines Neugeborenen befestigt gewesen war: darauf der Name, Emily, mit schwarzem Filzstift geschrieben, der Name und das Datum.
Sie waren seit beinahe einer Stunde in ihrem Zimmer und sahen Kleider durch. Einige Stücke, von Freundinnen geerbt oder pflichtschuldig von Lorraines Eltern geschenkt, hatte Emily nie getragen. In einem Hefter lagen Polaroids von ihrem ersten Urlaub zu dritt, gleich nach der Hochzeit.
»Erinnerst du dich?«
Emily auf dem Rücken eines gelangweilten Esels, ihre Hand fest in Michaels. Keiner von beiden sprach es aus, aber sie dachten in einer Weise an Emily, als würden sie sie nie wiedersehen.
»Wer war das vorhin am Telefon?«, fragte Michael.
»Nur meine Mutter.«
Michael nickte, während
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