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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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Gesicht.
    Sie war eine rundliche Frau, bestimmt ein mütterlicher Typ, vermutete Naylor. Ihr braunes Haar hatte sie zurückgebunden, trotzdem fiel ihr dann und wann eine dünneSträhne in die Augen, die sie dann automatisch zurückstrich. Sie trug eine lange Wolljacke über einem gemusterten Kleid und – für Naylor überraschend – neu aussehende Turnschuhe statt Straßenschuhe.
    »Ich kann es immer noch nicht glauben, wissen Sie. Das geht uns allen so.«
    Naylor nuschelte irgendetwas, das nach Verständnis klang, während er sein Heft nach der nächsten leeren Seite durchblätterte. Kindergeschrei schallte schrill durch das Gebäude, als jemand die Eingangstür öffnete.
    »Wie gut haben Sie Emily Morrison gekannt?«, fragte Naylor.
    »Ach, ich hatte sie nur dieses Halbjahr. Sie war natürlich vorher schon hier, im Kindergarten, aber ich hatte vor diesem Halbjahr nichts mit ihr zu tun.«
    »Aber Sie kannten sie doch sicher vom Sehen?«
    Joan Shepperd schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe selbst erst im September hier an der Schule angefangen. Als Aushilfe. Ich bin das, was man eine Springerin nennt.« Irgendwo in der Nähe begann jemand zu hämmern. Joan Shepperd lächelte. »Ich sitze zu Hause und warte darauf, dass das Telefon läutet. Na ja, das ist ein bisschen übertrieben. Wenn man Glück hat, wird man für ein volles Halbjahr eingesetzt. Als Ersatz.« Sie sah sich um. »Meistens, weil die reguläre Lehrkraft krank ist. Oder im Mutterschaftsurlaub. Deswegen bin ich hier, weil jemand ein Kind bekommt.«
    »Sie können also überall eingesetzt werden?«, fragte Naylor.
    »Ja. Innerhalb des Amtsbereichs, ja. Aber ich habe es lieber, wenn ich nicht so weit fahren muss.« Wieder lächelte sie, und diesmal sah man ihre Grübchen besser. »Ich habe keinen Führerschein, wissen Sie. Gut, es gibt Busse, aber bei unserer Arbeit hat man irgendwie immer so viel zu schleppen.«
    Das Hämmern brach ab und begann von Neuem. Ein Ball prallte gegen eines der Fenster; ein Kind drückte sein Gesicht an eine andere Scheibe und wurde mit lauten Rufen vertrieben. Naylor spulte seine Fragen ab und glaubte keinen Moment, dass es mehr sei als Routine. Als er sie nach Fremden vor der Schule fragte, nach irgendjemandem, der sich Emily angenähert habe, zögerte Joan Shepperd lange genug, um bei Naylor Erwartungen zu wecken, aber dann war es doch nichts. »Ein- oder zweimal war sie eine der Letzten, die abgeholt wurden, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube, ja, ihre Mutter war aufgehalten worden, vielleicht durch den Verkehr oder in der Arbeit, keine Ahnung. Aber Emily war sehr brav, sie wartete immer im Haus, in der Garderobe, glaube ich. Manchmal kam sie auch wieder hier ins Zimmer und half mir beim Aufräumen. Sie ist nie auf die Straße hinausgegangen.«
    Die Tür wurde geöffnet, ein Mann in einem braunen Arbeitsanzug mit einer Werkzeugtasche über der Schulter kam herein. »Oh, entschuldige, Joan …«
    »Ist schon gut.« Joan Shepperd stand auf. »Das ist der Polizeibeamte, der wegen der armen kleinen Emily hier ist.«
    »Ah, ja.«
    »Constable, das ist mein Mann Stephen.«
    Stephen Shepperd und Naylor nickten einander zu.
    »Ich komme manchmal vorbei und richte dies oder das, wissen Sie. Das Regal da, das war kurz vor dem Einsturz. Wenn man sich drauf verlässt, dass die Behörde jemanden zum Richten schickt, kann man warten, bis man schwarz wird. Stimmt’s, Joan?«
    »Ja, ich glaube, die Schule wartet schon eine ganze Weile«, stimmte Joan zu.
    Stephen stellte seine Tasche auf einen Tisch. »Zwei Nachmittage, und alles ist wieder auf Vordermann. Man muss natürlich Ahnung haben.«
    »Stephen war Schreiner«, erklärte Joan.
    »Was heißt, war? Ich bin’s immer noch.«
    »Er arbeitet nicht mehr voll«, sagte Joan zu Naylor.
    »Ich bin arbeitslos«, erklärte Stephen. »Warum soll’s mir besser gehen als tausend anderen?« Und mit einem Nicken zu Naylor: »Sie brauchen so was nicht zu fürchten. Nach allem, was man hört und sieht, ist die Kriminalität doch eine echte Wachstumsindustrie.«
    »Jetzt fang bloß nicht wieder damit an, Stephen.«
    »Okay, aber der junge Mann hier würde dir sagen, dass ich recht habe, da wette ich drauf. Aber gut, ich halte die Klappe. Ich lass die Sachen hier und komme wieder, wenn ihr fertig seid.«
    »Ich glaube, das sind wir schon«, sagte Naylor. »Es sei denn, Ihnen ist noch irgendetwas eingefallen, Mrs Shepperd?«
    Joan Shepperd schüttelte den Kopf. »Nein, so leid es mir

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