Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
Vom Netzwerk:
er sich fragte, mit welch verdrehter Logik sie es wohl geschafft haben mochte, ihm allein zur Last zu legen, was geschehen war.
    »Sie lässt dich grüßen«, sagte Lorraine, und beide wussten, dass es eine Lüge war.
    »Ich dachte, es wäre vielleicht die Polizei gewesen.«
    »Michael, das hätte ich dir doch gesagt.«
    In der letzten Nacht war Lorraine diejenige gewesen, die wie ein Stein geschlafen hatte, während Michael sich, von seinem verletzten Bein geplagt, rastlos wälzte, sich schließlich in die Küche setzte und Tee trank, wobei sein Blick dann und wann zu der ungeöffneten Whiskyflasche auf dem Bord und der leeren auf dem Boden neben dem Mülleimer wanderte. Heute Morgen hatte er Lorraine mit Grapefruitsaft und Toast geweckt und sie auf die Lider beider Augen geküsst. Es war das erste Mal seit Langem, dass er so etwas wieder tat.
    »Wird es immer so sein?«, hatte sie in den rauschhaften Tagen ihrer ersten Liebe gefragt – oder ihres schmutzigen Verhältnisses, wie ihre Mutter gern sagte.
    »Immer«, hatte Michael geantwortet, mit dem Handrücken ihre Brust gestreichelt und sie geküsst. »Immer.«
    »Die Liebe welkt«, sagt jemand in ›Der Stadtneurotiker‹.
    »Die Liebe tut weh«, singen die Everly Brothers. »Die Liebe stirbt.«
    Ihre Liebe, die von Lorraine und Michael, war auf ein Abstellgleis geraten, irgendwo zwischen abendlicher Ermattung und morgendlicher Hetze: Lorraine jagte den ganzen Tag zwischen Arbeit, Einkaufen und Emilys Schule hin und her, und wenn Michael abends den Wagen in die Einfahrt lenkte, war er erschöpft von der Sturheit der Klienten und schlapp von der Miniaturflasche Scotch, mit der er das im schwankenden Zug gekaufte Dosenbier hinunterspülte.
    »Ich liebe Emily, das weißt du, Michael, aber trotzdem – ich hätte so gern ein eigenes Kind, das verstehst du doch, nicht wahr?«
    »Aber natürlich verstehe ich das. Das kommt schon. Es muss nur passen.«
    Sie hatten seit Monaten nicht mehr darüber gesprochen; Lorraine bezweifelte, dass es Michael jemals passen würde. Sie hatte sogar schon begonnen, sich damit abzufinden. Und nach dem, was er mit Diana, was er mit seinem Sohn James erlebt hatte, glaubte Lorraine, sie könne es vielleicht akzeptieren, sogar verstehen. Es gab ja immer noch Emily.
    »Was ist? Lorraine, was ist?«
    Michael wollte sie in den Arm nehmen, als plötzlich die Tränen aufwallten, aber sie drehte sich von ihm weg und glitt aus dem Bett, in dem sie gesessen hatten, zur halb offenen Tür hinaus und den Flur hinunter zum Badezimmer, ließ ihn allein. Die Uhr auf der Kommode zeigte dreizehn Uhr zweiundzwanzig an. Morgen würde er wieder zur Arbeit gehen, wenn nicht inzwischen etwas geschah: Alles war besser, als hier herumzusitzen, jedes Mal den Atem anzuhalten, wenn in der Nähe ein Auto langsamer fuhr, und auf die Schritte vor der Tür und das Läuten der Glocke zu horchen.
    Als Resnick durch den Korridor ging, schon wieder eine Besprechung beim Superintendent, öffnete sich die Tür eines der Vernehmungsräume und Vivien Nathanson trat heraus, gefolgt von Millington, der, sonst eher griesgrämig, höchst befriedigt lächelte. Resnick hätte gern gewusst, was zwischen den beiden gewesen war, gerade eben, kurz vor Verlassen des Zimmers, und wurde von einem plötzlichen, schmerzhaften Stich der Eifersucht direkt unter dem Herzen überrascht.
    Die Bilder an den Wänden hatten starke Farben: Gestalten mit Riesenköpfen und unterentwickelten Körpern, Bäume mit Laubmassen in Grün und Rot, Sonnen, die so heiß strahlten, dass sie ganze Landschaften zu entflammen drohten. In einer Ecke des Raums waren Bücher in Plastikkisten und auf einem Regal gestapelt, das sich mitten im Umbau befand. Gegenüber bot ein Spielhaus Zuflucht, einen Platz der Ruhe, um die schon halb gemeisterten Familienrituale zu üben. Kleine Tische mit passenden Stühlen standen in Gruppen beieinander, zur Zimmermitte ausgerichtet. Blumen. Muscheln. Fossilien. Spielzeugautos. Puppen. Hamster mit Pausbacken, die in einem Strohnest schliefen.
    Naylor hatte sich mit Joan Shepperd vor Beginn des Nachmittagsunterrichts verabredet. Als er kam, klebte sie gerade farbige Bilder, unter denen in gut lesbaren Buchstaben jeweils zwei oder drei Begriffe standen, auf Karton. Sie lächelte durchaus entgegenkommend, als Naylor sich ihr vorstellte, aber dann zögerte sie, war auf einmal befangen, unsicher, wie sie sich verhalten sollte, die Reste ihres Lächelns erstarrten in ihrem breiten

Weitere Kostenlose Bücher