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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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tut.«
    Draußen auf dem Spielplatz setzte ein lauter Pfiff dem Kindergeschrei ein plötzliches Ende.
    »Hören Sie«, sagte Stephen Shepperd, als Naylor fast an der Tür war, »ich will ja nicht aufdringlich sein, aber wenn Sie zu Hause mal was zu reparieren haben, können Sie mich jederzeit anrufen.«
    »Danke«, erwiderte Naylor. »Ich werd’s mir merken.«
    Er ging zwischen den Scharen von Kindern hindurch, die in die Schule zurückdrängten, und dachte, dass es viel mehr als ein paar Nägel und Bretter brauchen würde, um sein Zuhause wieder in Ordnung zu bringen.
    Lynn Kellogg suchte die Morrisons am späten Nachmittag auf und berichtete ihnen, was der Tag gebracht hatte. Das verwilderte Stück Land am Kanal war ein zweites Mal abgesucht worden, ebenso das alte Bahngelände, wo GloriaSummers gefunden worden war, beides erfolglos. Zwei Meldungen von Leuten, die glaubten, Emily in Skegness beziehungsweise an der Südküste gesehen zu haben, erwiesen sich als Fehlanzeigen, ebenso drei Hinweise zum möglichen Eigentümer des schwarzen Sierra, der am Sonntag mehrere Stunden in der Straße der Morrisons gestanden hatte. Positiv zu vermerken war immerhin, dass eine Frau sich mit einer Beschreibung des gesuchten Joggers gemeldet hatte, die unverzüglich an die Medien weitergegeben würde.
    Auf Lynn machte diesmal Lorraine den angegriffeneren Eindruck, so als hätte sie Michael von ihrer Kraft zehren lassen und brauchte jetzt umgekehrt Kraft von ihm. Die beiden sollten am Abend im Fernsehen in einem landesweit ausgestrahlten Appell um Emilys Herausgabe bitten. Lorraine hatte bereits fünf verschiedene Ensembles anprobiert und alle verworfen, jetzt war sie drauf und dran, das auch mit einer sechsten Kombination zu tun.
    »Herrgott noch mal«, fuhr Michael sie ungeduldig an. »Das ist doch völlig in Ordnung.«
    Ein cremefarbener Hosenanzug mit blassrosa Bluse und weißen Schuhen mit flachen Absätzen – ein schöner Kontrast zu Michaels dunkelblauem Blazer über der dunkelgrauen Hose. Lynn fand, sie sähen eher aus, als wollten sie zu einer Taufe, aber sie hütete sich, das zu sagen, sie wollte sie nicht noch nervöser machen. Außerdem, was sah die modische Etikette für einen solchen Anlass vor? Sie dachte daran, dass ihr Vater zu einem Begräbnis in der Familie ohne Krawatte und in schmutzigen braunen Stiefeln erschienen war, auf den Hosenbeinen unverkennbar Hühnerscheiße. Hatte er deswegen weniger getrauert?
    Als Lynn sich erbot, sie ins Fernsehstudio zu begleiten, schienen die Morrisons aufrichtig dankbar zu sein.
    In der Maske wurden die Schatten um die Augen vertuscht und Lorraines Haare aufgepeppt. Nach einem kurzenGespräch mit dem Aufnahmeleiter wurden sie zu dem Sofa geführt, in dem sie, Seite an Seite sitzend, aufgenommen werden sollten. Die Nachrichtenmeldung begann mit dem Bild, das der Polizeizeichner von dem Jogger angefertigt hatte, der in der Nähe des Hauses der Morrisons mit Vivien Nathanson zusammengestoßen war. Dann waren Michael und Lorraine an der Reihe. Über Lorraines Schulter wurde ein Foto von Emily eingeblendet.
    »Wir wissen nicht, wer unsere Tochter entführt hat und gegen ihren Willen festhält«, sagte Michael, in die Kamera blinzelnd, »aber wir bitten die Person, ihr nichts anzutun. Bitte, bitte, wer auch immer Sie sind, lassen Sie sie frei, erlauben Sie ihr, wieder nach Hause zu kommen.«
    Der Schweiß rann Michael übers Gesicht, und der Aufnahmeleiter fürchtete, dass ihm bei einer Nahaufnahme ein Tropfen von der Nase fallen würde – ganz und gar nicht der Effekt, den er wünschte. Als Michael schwieg, legte Lorraine eine Hand auf die seine und drückte sie. Der Kameramann reagierte prompt und bekam die Geste gerade noch ins Bild.
    »Klasse«, sagte der Cutter zufrieden. »Damit enden wir.«

30
    Den ganzen Tag lang hatten sie Raymond gepiesackt, hatten ihn mit ihrem Gebrüll von Verladerampe zu Verladerampe gejagt, von Schlachthalle zu Schlachthalle, von Pontius zu Pilatus.
    »Raymond! Hier, fass mal mit an.«
    »Raymond, beweg endlich deinen faulen Arsch.«
    »Raymond, hast du die Bestellung immer noch nicht fertig?«
    »Raymond!«
    »Ray!«
    »Ray-o, gottverdammich.«
    »Ray!«
    Hathersage packte ihn am Kragen seines Overalls und schleuderte ihn so heftig herum, dass ihm auf dem blutverschmierten Boden die Füße wegrutschten, die Knie einknickten und ihn schließlich nur noch Hathersages Riesenhand hielt. »Weiß der Himmel, was du die ganze Zeit im Kopf hast, du elender

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