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Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Kinderfänger: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Harvey
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gedrückt, mit der freien Hand an ihren nicht unbeträchtlichen Oberschenkel klammerte.
    Unter weiteren Entschuldigungen rappelte Resnick sich hoch. Die Frau barg indessen sein verirrtes Sandwich, das bis auf ein paar herausgefallene Salatblätter ganz intakt war.
    »Sie sind nicht zufällig Inspector Resnick?«, fragte sie.
    Wer soll ich sonst sein?, fragte sich Resnick.
    »Der Mann am Schalter sagte, Sie würden jeden Moment zurück sein.«
    »Und hier bin ich schon«, sagte Resnick. »Worum geht es denn?«
    »Um das kleine Mädchen. Emily Morrison heißt sie, glaube ich.«
    Resnick ließ die beiden braunen Papiertüten auf den Schreibtisch fallen und wandte sich seiner Besucherin zu: Sie war mittelgroß und hatte dunkles, fast schwarzes, vongrauen Strähnen durchsetztes Haar, gestuft und kurz geschnitten. Sie trug einen weiten dunkelblauen Rock, dazu einen Pulli in hellerem Blau unter einer rötlich braunen Jacke mit tiefen Taschen und Schulterpolstern. Resnick war sich nicht sicher, aber er hatte den Eindruck, dass sie Kontaktlinsen trug. Er schätzte sie auf Ende dreißig, Anfang vierzig, womit er gute fünf Jahre zu tief griff.
    »Ich bin Vivien Nathanson«, sagte sie.
    Nach den vielen Jahren doch immer wieder dasselbe: Er wusste nicht, ob er ihr die Hand geben sollte oder nicht. Spielte es eine Rolle, dass die Person möglicherweise zehn Minuten später zur Mordverdächtigen wurde oder gestand, Dinge getan zu haben, die aller Vorstellungskraft spotteten? Statt ihr die Hand zu bieten, bot er ihr Kaffee an.
    »Könnte ich vielleicht Tee haben?«
    »Aber natürlich.«
    »Schwarz?«
    »Bei der Milch, die wir hier zu bieten haben, ist das das Gescheiteste.« Resnick rief in den Dienstraum hinaus, und Divine riss sich vom Bild der Miss Dezember los, um zu Diensten zu sein.
    »Ich habe Ihren Appell im Radio gehört, als ich zur Arbeit fuhr. An die Universität. Ich unterrichte.«
    Sie sah nicht aus, als schrubbte sie dort die Böden.
    »Kanadistik.«
    Resnick war verwirrt. Er hatte gar nicht gewusst, dass so ein Fach existierte. Was gab es da schon viel zu studieren? Die großen kanadischen Erfinder? Den Lebenszyklus des Bibers? Bäume? Er kannte einen ehrgeizigen Sergeant aus Chesterfield, der sich ein Forschungsjahr genommen hatte, um bei der kanadischen Polizei in Alberta zu arbeiten. Er meinte, die meiste Zeit habe er damit verbracht, dem Schnee beim Schmelzen zuzusehen.
    »Sie möchten doch wissen, wer die Frau ist, die in der Gegendgesehen wurde, wo das kleine Mädchen verschwand. Ich glaube, dass ich sie sein könnte.«
    Divine klopfte und brachte den Tee.
    »Wo ist meiner?«, fragte Resnick.
    »Entschuldigen Sie, Sir, Sie haben nichts gesagt.«
    »Ich war am Sonntagnachmittag irgendwann zwischen drei und vier in dieser Straße, wo die Leute wohnen. Genauer kann ich es leider nicht sagen.«
    »Haben Sie jemanden besucht?«
    »Nein, ich war spazieren.«
    »Einfach nur spazieren?«
    Vivien lächelte. »Kennen Sie einen Schriftsteller namens Ray Bradbury, Inspector?«
    Resnick schüttelte den Kopf. »Kanadier?«
    »Amerikaner. Aus Illinois, glaube ich. Bitte …«, sie hob ihren Teebecher, um zu trinken, »lassen Sie sich nicht von Ihrem Mittagessen abhalten.«
    Resnick öffnete die Tüte, in die das Vollkornbrot mit Hühnchen und Brie eingepackt war. Er fragte sich, wie lange sie brauchen würde, um zur Sache zu kommen, hatte aber bereits entschieden, dass es ihm ziemlich egal war, solange sie nicht völlig den Rahmen sprengte.
    »In einer seiner Kurzgeschichten«, fuhr sie fort, »wird ein Mann von einer vorüberkommenden Funkstreife festgenommen, weil er allein in dieser Gegend herumspaziert. Ohne festes Ziel. Das allein ist schon verdächtig genug, um als Verbrecher betrachtet zu werden. Als er sich wehren will und anfängt zu erklären, stellt er fest, dass es völlig sinnlos ist. Der Streifenwagen ist voll automatisiert, es sitzt kein Mensch darin.«
    »Ist das so etwas wie eine Parabel?«, erkundigte sich Resnick.
    Vivien Nathanson lächelte. »Wahrscheinlich eher eine erweiterte Metapher.«
    »Und ich bin der seelenlose Polizist.«
    »Hoffentlich nicht. Wie schmeckt das Sandwich?«
    »Hervorragend.« Er bedeutete ihr, sich ein Stück zu nehmen, aber sie lehnte ab.
    »Ich bin auf Vorweihnachtsdiät, die will ich jetzt nicht unterbrechen.«
    »Was haben Sie beim Spazierengehen getan?«
    »Oh, nachgedacht.«
    »Über Vorlesungen und dergleichen?«
    »Hm. Und andere Dinge.«
    Resnick hätte gern gefragt, was

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