Der Kirchendieb
hineinwerfen zu können.
Der Raum war kahl. Truhen, Regale oder Tische fehlten. Das einzige Möbelstück schien ein hoher Stuhl mit Rückenlehne zu sein,
in dem der Lehrer saß. Johanna konnte ihn jedoch nicht sehen, da er genau mit dem Rücken zu ihr saß. Vor dem Schulmeister
stand ein etwa siebenjähriger Junge, der laut eine Lektion aus einem Buch vorlas. In der Hand des Lehrers lag eine lange Rute,
bereit, bei dem kleinsten Fehler auf den Jungen niederzusausen. Die anderen Schüler, alles Jungen im Alter zwischen sechs
und zwölf Jahren, saßen ordentlich in Reihen auf dem Boden, der mit Stroh ausgelegt war. Nur die älteren durften schon hinter
niedrigen Bänken knien, da siebereits mit Tinte und Feder auf kostbarem Papier schrieben. Die jüngeren hatten ihre Wachstafeln in den Schoß gelegt. Einige
schrieben, andere rechneten.
Nachdem der Junge geendet hatte, wurde Andreas von seinem Schulmeister aufgefordert, nach vorne zu kommen. Doch der entdeckte
im selben Augenblick Johanna am Fenster. Seine Aufmerksamkeit war sofort dahin. Dass sein Lehrer ihn schon zum dritten Mal
zu sich rief, hörte er gar nicht. Andreas merkte auch nicht, wie sein Lehrer sich erhob und mit gezückter Rute auf ihn zuging.
Der Schlag traf ihn völlig unvorbereitet.
»Wer nicht hören will, muss fühlen«, schimpfte der Mann mit ihm. »Streck deine Hände aus!«
Andreas gehorchte zögernd. Die feinen Birkenzweige der Rute durchschnitten pfeifend die Luft. Johanna hielt den Atem an, sah,
wie Andreas vor Schmerz zusammenzuckte. Sofort zeichneten sich rote Striemen auf seinen Handflächen ab. Dann griff der Schulmeister
nach Andreas’ Ohren und zog ihn mit sich nach vorne. Die anderen Schüler schienen förmlich in Deckung zu gehen, machten sich
klein und unscheinbar. Nur nicht auffallen, wenn der Schulmeister wütend war.
Feiglinge, dachte Johanna. Warum taten sie sich nicht zusammen und wehrten sich gegen den Zenker. Gehörten denn nicht die
meisten zu Andreas’ Bande?
Weiter kam Johanna nicht. Ihr Blick und der des Schulmeisters trafen sich. Es waren dieselben schwarzen Augen wie in der vergangenen
Nacht, die des Kirchendiebs.
Auch er erkannte Johanna wieder, erschrak, stand regungslos da. Für Sekunden schien die Zeit stillzustehen, doch dann ging
alles blitzschnell. Der Schulmeister ließ Andreas’ Ohr los und rannte zur Tür. Auch Johanna begann zu rennen, schlug wie ein
Hase Haken um die Leute, die in den Gassen unterwegs waren. Die Angst war übermächtig. Johanna wusste jetzt, wer der Dieb
war, und das brachte sie in Lebensgefahr. Einmal nur hatte sie sich kurz umgedreht. Doch das vor Hass verzerrte Gesicht ihres
Verfolgers ließ sie schaudern. Er würde nicht eher ruhen, bis er sie zum Schweigen gebracht hatte. Es war noch nicht einmal
zwölf Stunden her, dass Johanna durch die Gassen rannte, doch dieses Mal bot ihr die Dunkelheit keinen Schutz. Sie musste
unter Menschen. Dort war sie sicherer, konnte vielleicht untertauchen. Doch wo waren die Massen,wenn man sie brauchte? Johanna rannte und rannte, hörte die Flüche der Leute hinter sich und wusste, dass ihr Verfolger ihr
immer noch auf den Fersen war. Johanna bog um eine Ecke. Ihr Blick fiel auf einen Jungen, der einen Karren voller Lumpen zog.
Claeß, ein Junge aus ihrer Bande. Jetzt musste alles schnell gehen. Johanna drehte sich um, sah, dass ihr Verfolger noch nicht
um die Ecke gebogen war. Dann rannte sie blitzschnell auf Claeß zu, stieg in den Handkarren und deckte sich mit den Lumpen
zu. Sofort stieg Johanna ein säuerlicher Gestank in die Nase. Sie musste sich zwingen, ruhig liegen zu bleiben und nicht nach
frischer Luft zu schnappen. Angewidert von dem Geruch der Lumpen hielt sie die Nase zu und atmete durch den Mund. Wo Claeß
die nur aufgesammelt hatte? Besser, sie wusste es nicht. Wenigstens war auf Claeß’ Verschwiegenheit Verlass. Ungerührt, als
wäre nicht eben ein Mädchen in seine Karre gestiegen, ging er seiner Wege.
Nicht stehen bleiben, dachte Johanna. Nur nicht stehen bleiben.
Die Zeit verstrich und langsam entspannte sich Johanna. Dann polterte der Karren über unebenes Gelände. Das musste der Hof
der alten Gülich sein. Sie kaufte den Kindern die aufgesammelten Lumpen ab,wusch sie und verkaufte sie gegen Gewinn weiter an die Papiermühlen. Dort wurden die alten Lumpen für die Papierherstellung
gebraucht. Johanna atmete auf, als Claeß sie vom Lumpenberg befreite und ihr
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