Der Kirschbluetenmord
schnell von Sanos Gesprächen erfahren würde – und dann würde sie ihn, Ogyū, beschuldigen, nicht dafür gesorgt zu haben, daß Sano den Befehlen seines Vorgesetzten gehorchte. Der Gedanke, sich den Unwillen der Fürstin zugezogen zu haben, verschlimmerte Ogyūs Magenbeschwerden. Heiße, ätzende Galle stieg ihm in die Kehle, als er daran dachte, daß Fürstin Niu ihn vernichten konnte, falls sie sich dazu entschloß. Verflucht sollte Sano Ichirō sein, dieser dickköpfige, ungehorsame Narr! Hätte er diesen Kerl doch nie in seine Dienste aufgenommen!
Ogyū schob den Brief wieder unter seine Schärpe und versuchte, seine Sorgen zu verdrängen. Er konnte auch mit Fürstin Niu fertig werden! Er mußte sich nur auf jene Fertigkeiten konzentrieren, die er im Laufe der Jahre bis zur Perfektion entwickelt hatte. Das Manipulieren. Den verbalen Schwertkampf. Die Fähigkeit, einen Vorteil zu erkennen und zu nutzen, bevor der Gegenspieler es überhaupt bemerkt hatte. Die Stärken und Schwächen des Gegenspielers als eigene Waffen einzusetzen. Und wenn er, Ogyū, dafür sorgte, daß der Schauplatz der Auseinandersetzung entsprechend hergerichtet war, konnte es ihm den Sieg über Fürstin Niu noch mehr erleichtern. Der Magistrat wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Teezeremonienhäuschen zu.
Die schlichte, kastenförmige Hütte mit dem Strohdach, den rauhen irdenen Wänden und den Fensterkreuzen aus Bambus sah wie ein Bauernhaus aus, das man aus dem Erdboden gerissen und nach Edo transportiert hatte. Für gewöhnlich erfreute Ogyū sich an dem Kontrast zwischen der unscheinbaren Hütte und seiner prunkvollen Villa in der Stadt. Ihm gefiel die Atmosphäre der bäuerlichen Schlichtheit; er hatte allerdings auch keine Kosten gescheut, diese Wirkung zu erzielen. Mit Geld, ging es ihm durch den Kopf, kann man sich sogar Ruhe und Frieden kaufen.
Heute aber konnte Ogyū seiner inneren Anspannung wegen die Hütte nicht mit der üblichen Selbstzufriedenheit betrachten. Auch der winterkahle Garten erschien ihm trist und öde. Er hatte Kirschbäume anpflanzen lassen, die im Frühling blühten, und einjährige Pflanzen für den Sommer und Ahorn für den Herbst, doch er hatte es versäumt, immergrüne Gewächse für den Winter anzupflanzen. Und die alten steinernen Laternen sahen nicht malerisch aus, sondern schmuddelig und schäbig. Ogyū hatte Stunden damit verbracht, höchstpersönlich die Trittsteine des Gehwegs zu legen, der in einer kunstvoll-unregelmäßigen Linie zur Teehütte führte. Jetzt verspürte er das plötzliche Verlangen, die Steine anders anzuordnen. Auch der Entwurf der Hütte wollte Ogyū auf einmal nicht mehr gefallen. Und die nur hüfthohe Eingangstür war ihm zu hoch, und die Fenster wirkten zu klein.
Die Bedrohung, die der bevorstehende Besuch Fürstin Nius darstellte, hatte Ogyūs Selbstsicherheit einen solchen Schlag versetzt, daß er seine Teezeremonienhütte zum ersten Mal als das sah, was sie wirklich war: als zweitklassiges Werk eines Dilettanten, der sich in der Rolle des Landschaftsarchitekten gefiel.
Ogyū verspürte eine Aufwallung hilfloser Wut, die auf Fürstin Niu und Sano Ichirō gerichtet war. Beide hatten in letzter Zeit seine Ruhe und seinen Frieden empfindlich gestört. Um ein Ventil für seinen Zorn zu finden, schaute Ogyū sich um.
»Du da! Komm her!« fuhr er seinen Diener an. »Hier, diese Stelle hast du übersehen, du Narr!« Er zeigte auf einen winzigen Staubfleck auf einer der ansonsten makellos sauberen Platten des Gehwegs. »Kümmere dich darum. Ab sofort erwarte ich tadellose Arbeit von dir! Anderenfalls wirst du entlassen.«
»Ja, Herr. Verzeiht, Herr.« Der Diener eilte davon, um einen Besen zu holen.
Die Angst in den Augen des Mannes gab Ogyū das Gefühl der Macht zurück. Jetzt sah er sich wieder als strahlender Sieger aus der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Fürstin Niu hervorgehen. Hatte er in seinem langen Leben nicht alle schwierigen Situationen gemeistert? Lächelnd ging Ogyū über die blitzsauberen Trittsteine zur Hütte. Er zog die Sandalen aus und schob die nur hüfthohe Tür des Eingangs auf, die dazu dienen sollte, von den Gästen einer Teezeremonie eine Geste der Demut zu erzwingen. Normalerweise hätte Ogyū die Hütte von hinten betreten, durch die Tür der Dienerschaft, die in die Küche führte. Doch er wollte die Hütte aus dem Blickwinkel Fürstin Nius betrachten. Als Ogyū auf den Knien ins Innere rutschte, umspielte ein Lächeln seine Lippen.
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