Der Kirschbluetenmord
zusammenzuckten. Die dröhnenden, tiefen Schläge hallten über die Berge und den See hinweg und riefen die Nonnen zum Abendgebet.
Midori warf einen nervösen Blick den Hang hinauf. »Ich gehe jetzt lieber zurück, bevor jemand bemerkt, daß ich fort bin«, sagte sie. »Wenn die Nonnen mich beim Ungehorsam erwischen, bekomme ich nichts zum Abendessen.« Widerwillig erhob sie sich und reichte Sano den Umhang zurück. »Auf Wiedersehen, yoriki-san. «
Sie machte ein paar Schritte; dann blieb sie stehen, drehte sich noch einmal um und sagte mit ungewohnt ernster Erwachsenenstimme: »Ich will, daß Yukikos Tod gerächt wird. Ich will, daß ihr Mörder bestraft wird.« Auch ihr Gesicht hatte sich plötzlich verändert. Sano erhaschte einen beunruhigenden Blick auf die Frau, zu der Midori heranwachsen würde – eine Frau, die auf ihre Weise so furchterregend war wie Fürstin Niu. »Falls Masahito der Mörder ist«, sie schluckte schwer, fuhr aber tapfer fort: »muß er sterben.«
Sano beobachtete, wie Midoris kleine, einsame Gestalt den Pfad zum Tempel hinaufging; dann machte er sich an den Abstieg zum Dorf. In dieser Nacht konnte er sich ausruhen. Doch morgen mußte er die Rückreise nach Edo antreten, wo er sich den schwierigen Aufgaben stellen mußte, Tsunehikos Eltern den Tod ihres Sohnes mitzuteilen und den Beweis zu erbringen, daß Fürst Niu Masahito sich dreier Morde schuldig gemacht hatte.
17.
M
agistrat Ogyū bückte sich und betrachtete prüfend die steinerne Bank vor seinem privaten Teezeremonienhäuschen. Wenngleich die Morgensonne keinen Schmutz erkennen ließ, strich er mit dem Finger über das Holz, hielt ihn sich vor die Augen und runzelte die Stirn, als er den kaum erkennbaren Staubfilm auf der Fingerkuppe entdeckte.
»Mach die Bank sofort sauber!« herrschte er den Diener an, der demutsvoll neben ihm stand. »Fürstin Niu wird in Kürze eintreffen. Dann muß alles tadellos in Ordnung sein.«
»Ja, Herr.« Der Diener verbeugte sich und fegte die Bank mit einem kleinen Besen ab.
Nun nahm Ogyū den Garten in Augenschein. Er mußte dafür sorgen, daß die Gärtner die toten Zweige von den steinernen Platten des Gehwegs entfernten und die Blätter auf dem Teich zu schönen Mustern anordneten. Als Ogyū im Garten umherschlenderte, zerknitterte er beim Gehen das Schriftstück, das er sich unter die Schärpe geschoben hatte. Widerwillig zog er Fürstin Nius Brief hervor, der gestern eingetroffen war, und las ihn zum vielleicht zwanzigstenmal, wobei er die formellen Höflichkeitsfloskeln und Begrüßungen überging und sich auf die eigentliche Mitteilung der Fürstin konzentrierte:
Im Hinblick auf die Ereignisse in jüngster Zeit halte ich es für dringend geboten, daß wir uns sehr bald treffen und uns eine Strategie zurechtlegen, wie wir verfahren sollten, was die Auswirkungen besagter Ereignisse betrifft.
Bei den »Ereignissen«, die Fürstin Niu erwähnte, konnte es sich nur um Sano Ichirōs heimlichen Besuch des Kannon-Tempels und die Ermordung des jungen Tsunehiko handeln. Ogyūs Spitzel hatten ihm davon berichtet; es waren die einzigen außergewöhnlichen Vorfälle in den letzten drei Tagen gewesen. Ogyū fragte sich, weshalb Sano ihm die scheinbar sinnlose Lüge über die Pilgerfahrt nach Mishima aufgetischt hatte. Doch was immer der Grund dafür gewesen sein mochte – es war eine Sache zwischen Vorgesetztem und Untergebenem, die am besten auf privater Ebene geklärt werden sollte. Und Tsunehikos Tod war eine unglückliche, aber durchaus alltägliche Tragödie, wie sie bei Reisen auf der Fernstraße des öfteren vorkam. Was hatte Fürstin Niu mit diesen Geschehnissen zu tun?
Ogyū konnte nur Vermutungen anstellen. Der Ungewißheit wegen hatte er die ganze letzte Nacht kein Auge zugetan. Die Nervosität war ihm auf den Magen geschlagen; trotz des Heiltranks aus Bambusasche, den er zu sich genommen hatte, war ihm noch immer übel. Zu Ogyūs Sorgen trug zudem eine beunruhigende Nachricht bei, die ihm einer seiner Spitzel am Morgen überbracht hatte: Sano hatte die Nachforschungen über den shinjū nicht eingestellt! Am Tag vor seiner Abreise hatte Sano sowohl mit dem Schauspieler Kikunojō als auch mit einem Sumo-Ringer namens Raikō gesprochen. Der Magistrat glaubte jedoch nicht, daß die Fürstin bereits davon wußte;
Ogyūs Spitzel in diesen Stadtvierteln waren tüchtiger als die jedes anderen Herrn – mit Ausnahme der Spione des Shōgun. Doch Ogyū wußte, daß Fürstin Niu sehr
Weitere Kostenlose Bücher