Der Kirschbluetenmord
Heute würde der niedrige Eingang einem weiteren Zweck dienen: Auch Fürstin Niu mußte knien, wenn sie sich ihm näherte – was sie anderenfalls nie und nimmer getan hätte. Dadurch lag der Eröffnungsvorteil bei ihm, Ogyū.
Im Innern der Hütte warf er einen prüfenden Blick durch das Zimmer. Häcksel schimmerte goldgelb in den Wänden, die aus ockerfarbenem, gebranntem Lehm bestanden. Die Hauptsäule in der Zimmermitte war ein schlanker, von der Rinde befreiter Baumstamm, unregelmäßig geformt, aber sorgfältig poliert und von mattem Glanz. Die Deckenbalken und das Fachwerk waren aus fein gemasertem Holz. In einer Nische hing eine Tuschezeichnung, die eine Winterlandschaft zeigte, über einer schlichten schwarzen Vase, die von einem primitiven koreanischen Töpfer stammte. Ja, alles in diesem Zimmer entsprach den höchsten Anforderungen an eine Teezeremonie.
Doch Ogyū hatte dem Zimmer eine zusätzliche persönliche Note verliehen, die er als Verbesserung der traditionellen Ausstattung solcher Teezeremonienhäuschen betrachtete: hinter hölzernen Gittern versteckt, brannten drei Kohlebecken, die in den Fußboden eingelassen waren. Ogyū sah keine Veranlassung, der Rustikalität wegen auf Behaglichkeit zu verzichten; denn im Winter konnte der Herd, der sich in einer Vertiefung neben dem Platz des Gastgebers befand, dem Zimmer nicht genügend Wärme spenden.
Ogyū ging in die winzige Küche und nahm eine Schüssel und Teeschalen, einen Rührbesen aus Bambus, eine Dose mit feinstem, zermahlenem grünem Tee, einen Schöpflöffel, Mundtücher, eine Aufgußschale und ein Kochgefäß aus einem Schrank. Er füllte das Kochgefäß aus einer Urne, die seine Wasservorräte enthielt; dann brachte er das Gefäß ins Hauptzimmer und stellte es auf den Herd, um das Wasser aufzukochen. Die anderen Gegenstände legte er auf ein Tablett aus Lack, das er anschließend auf einer kleinen Serviermatte neben dem Herd ablegte. Dann kniete er nieder, um auf Fürstin Niu zu warten.
Vor Beginn einer Teezeremonie dachte Ogyū häufig an die Odyssee, die ihn vom Haus seiner Eltern bis in diese Hütte geführt hatte, welche zwar ebenso rustikal, aber sehr viel teurer war. Auch diesmal dachte er an die vergangenen Zeiten.
Ogyū war als Asashio Banzan geboren worden, Sohn eines niederrangigen Gefolgsmannes im Dienste eines unbedeutenden Verbündeten der Tokugawas. Die Banzans hatten wie arme Bauern in einer vom Bürgerkrieg heimgesuchten Provinz gelebt. Als frühreifer Achtjähriger hatte Asashio die Gunst seines Lehrers an der Samurai-Schule errungen; seiner hohen Intelligenz wegen war schließlich sogar der Fürst auf ihn aufmerksam geworden. Asashios Lohn war eine Anstellung als Page im Palast von Edo gewesen.
Im Palast war er der kleinste und schwächste der mehr als hundert Pagen – doch der bei weitem gerissenste. Seine natürliche Begabung, sich die Schwächen und Begierden sowohl der vorgesetzten als auch der gleichrangigen Kollegen zunutze zu machen, war ihm von großem Vorteil. Er tauschte Arbeit gegen Hilfe zum Schutz vor Schlägern. Er verlieh Geld, fädelte Liebesaffären ein, beschaffte alkoholische Getränke und Drogen und vertuschte die Fehler und Vergehen von Kollegen. Als Gegenleistung übernahmen die anderen Pagen die niederen Arbeiten, die eigentlich Ogyū verrichten mußte, und Palastbeamte belohnten ihn mit Vergünstigungen und begehrenswerten Sonderaufgaben. Er tauschte seine Freundschaft gegen Informationen, die er gegen seine Feinde einsetzen konnte. Auf seine Weise erwarb Ogyū sich schon damals jenes politische Geschick, für das er nun berühmt war. Binnen weniger Jahre brachte er es zum obersten Pagen, dann zum Diener, zum Schreiber und schließlich zum Verwalter. Ein höherer Aufstieg war einem Mann von seiner niederen Herkunft verwehrt.
Dann aber heiratete er die einzige Tochter eines der führenden Gefolgsleute des Shōgun. Er erreichte dieses Ziel, indem er sich bei seinem zukünftigen Schwiegervater einschmeichelte und zugleich geheime Verleumdungskampagnen gegen seine Rivalen um die Gunst der Tochter führte. Er nahm den Familiennamen seiner Frau an – Ogyū –, wurde vom Schwiegervater adoptiert und als Erbe eingesetzt. In der Folgezeit stieg er bis zum Rang eines Beraters auf. Als sein Schwiegervater starb, erbte Ogyū nicht nur das Vermögen des Verstorbenen, sondern auch dessen Amt: Magistrat des Nordteils von Edo.
Mit Hilfe seines Netzwerks aus Spitzeln und Informanten kontrollierte Ogyū seit
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