Der Kirschbluetenmord
schwappte Wasser an ein Ufer. Der Ring und der Gegner waren verschwunden, doch immer noch hörte Raikō das Kreischen und Füßestampfen der Zuschauer. Er drehte den Kopf. Die Bewegung war dermaßen schmerzhaft, daß er aufstöhnte. Schockhaftes Entsetzen riß ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Oh, nein«, murmelte er.
Das Publikum war ein Schwarm Raben. Flatternd, hüpfend und krächzend zerrten sie mit den Schnäbeln am Fleisch zweier verwesender, kopfloser Leichen, die in Raikōs Nähe am Boden lagen. Hinter dieser scheußlichen Gruppe waren Männer damit beschäftigt, ein Kreuz aus rohem Holz zu errichten. Ihre Hämmer erzeugten jene stampfenden Geräusche, die Raikō in seinem Traum vernommen hatte. Er befand sich auf dem Hinrichtungsplatz am Ufer des Flusses. Was für ein schmählicher Ort für den Tod eines Samurai!
Die Scham und die Trauer, daß sein Leben so endete, vereinten sich zu einem gewaltigen, stummen Leiden, das Raikō verzehrte. Ein Schluchzer stieg in seiner Kehle auf; er schluckte ihn hinunter. Als letzte Geste gegenüber dem Gebot der Tapferkeit eines Samurai wartete er mit unerschütterlicher Ruhe auf das Ende seiner Qualen. Immerhin würde der Dämon mit ihm sterben.
Die Männer hoben Raikō von der Trage und fesselten ihn ans Kreuz. Schnaufend vor Anstrengung, richteten sie es in mehreren ruckartigen Schüben auf, bis es aufrecht stand.
Raikō blickte über den Fluß. Am Ufer steckten abgehackte Köpfe auf einer Reihe von Pfählen. Leichen baumelten von zwei Kreuzen neben dem seinen. Über dem braunen Wasser schwebten Nebelschwaden. Einige Fischer schauten von ihren Booten aus schweigend zu. Raikō warf einen letzten Blick auf die Welt. Dann schloß er die Augen und wartete.
Der ohrenbetäubende Schrei des Scharfrichters erklang.
Eine Lanze fuhr Raikō in die Brust.
Eine Woge von Schmerz machte aller Qual ein Ende.
Raikō schrie, als diese Woge ihn davontrug. Er hörte das Blut in seinem Kopf pochen – ein riesiges, rotes Pulsieren, das rasch zu schwinden begann. Er sah den Sumo-Ring, der die Grenzen seines Lebens gebildet hatte, und den gesichtslosen Gegner. Raikō stürzte … stürzte aus dem Ring. Im allerletzten Augenblick seines Lebens packte er den Dämon und zerrte ihn mit sich. Er verspürte einen wilden Ausbruch triumphaler Freude.
Dann nichts mehr.
19.
B
ereits fünf Tage nach seiner Abreise kehrte Sano nach Edo zurück. Doch es kam ihm so vor, als wäre seither eine Ewigkeit vergangen.
Als er durch die hellen, nachmittäglichen Straßen ritt, von Trauer erfüllt und müde von der Reise, wurde ihm zu seinem Erstaunen deutlich, daß die Jahreswende bevorstand. Hausfrauen und Ladenbesitzer fegten den Staub aus den Türen, machten Hausputz oder reinigten die Geschäfte zur Vorbereitung für den Neujahrstag, der bereits in drei Tagen war.
»Böse Geister, geht hinaus!« riefen sie. »Glück, komme herein!«
Auf Balkonen und an Wäscheleinen hing Bettzeug zum Trocknen. Die Geldverleiher machten lebhafte Geschäfte; viele Kunden zahlten die Schulden aus dem zu Ende gehenden Jahr zurück. Kiefernzweige, Bambusstäbe und geflochtene Papiergirlanden zierten jeden Haus- und Ladeneingang. Auf Türschwellen und Fenstersimsen standen Reiskuchen, um die bösen Geister zu bewegen, anderswohin zu gehen. Auf dem Marktplatz waren die Stände von Kunden umlagert, die Zutaten für das Festtagsessen kauften, das sie noch vor Neujahr zubereiten mußten; denn an diesem Tag war das Kochen untersagt. Mochi -Verkäufer zerstampften klebrigen Reis zu den festen, käsigen Kuchen, die zu Neujahr jedermann in großer Zahl verschenkte und geschenkt bekam. Eine fröhliche Ausgelassenheit hatte die Stadt erfaßt, deren Einwohner freudig das größte Fest des Jahres erwarteten: setsubun, den Neujahrsabend.
Die Feiertagsstimmung konnte Sanos Laune nicht heben; sein Kummer machte ihm zu sehr zu schaffen. Nie zuvor hatte sein Lieblingsfest ihm so wenig bedeutet. Die einsame Rückreise hatte ihm zu viel Zeit zum Grübeln verschafft. Sano hatte eine Urne bei sich, in der sich Tsunehikos Asche befand. Er hatte sie auf dem Rückritt in Totsuka mitgenommen. Nun beulte die Urne seine Satteltasche aus, so daß er ständig daran erinnert wurde, welche Pflichten er noch zu erfüllen hatte. Er mußte einen Mörder fangen und den Tod seines Freundes rächen, ohne seine Familienehre zu beschmutzen. Er mußte das Rätsel lösen, weshalb Fürstin Niu so sehr darauf bedacht war, daß er seine Nachforschungen
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