Der Kirschbluetenmord
strömten seine Tränen vor Erleichterung, als er darauf wartete, daß jemand kam, ihn zu befreien. Doch als die Zeit verrann, ohne daß sich etwas tat, nahm seine Besorgnis wieder zu. Was hielt die Männer so lange auf? Die Stricke hatten Raikōs Hand- und Fußgelenke taub werden lassen; er wollte endlich von den Fesseln befreit werden. Jetzt sofort. Er wollte diesen grauenhaften Ort so schnell wie möglich verlassen. Er wollte ein Bad, einen kräftigen Schluck Reiswein und Medizin für seine Wunden.
»He«, rief er mit heiserer Stimme. »Kommt zurück. Laßt mich heraus.«
Die Tür wurde geöffnet, und seine beiden Folterer traten hindurch. Das boshafte Lächeln Einauges jagte einen Angstschauder durch Raikōs Körper. Seine Nasenflügel bebten, als er den rauchigen, metallenen Geruch wahrnahm, der aus einem steinernen Eimer stieg, den der kleinere der beiden Folterknechte trug. Plötzlich begriff Raikō.
»Bitte, nein!« schrie er. »Nicht das neto-zeme! Nein!«
Einauge drehte Raikō auf den Bauch. Er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren, und flehte um Gnade. Das Gesicht auf den schmutzigen Boden gedrückt, weinte und schluchzte er.
»Nein«, stieß er keuchend hervor, als ihm eine Lanzenspitze über den Rücken fuhr und eine lange Schnittwunde hinterließ. Raikō knirschte vor Schmerz mit den Zähnen und jammerte: »Bitte, ich bezahle euch, was ihr wollt. Ich habe nicht viel, aber irgendwie bekomme ich das Geld schon zusammen … auuu! «
Raikōs Körper wurde starr vor Schmerz, als Einauge die tiefe Schnittwunde mit groben Händen auseinanderzog. Dann spürte Raikō, wie der kleinere Mann sich über ihn beugte und den Eimer kippte.
»Aaaa! «
Das flüssige Kupfer tröpfelte in Raikōs Wunde. Sein Rücken verwandelte sich in einen einzigen, glühenden Schmerz, der ihn an den Rand des Wahnsinns brachte. Während er schrie und schluchzte, konnte er das Zischen seines Fleisches hören, das vom geschmolzenen Kupfer verbrannt wurde; die Ränder der Wunde kräuselten sich und wurden schwarz.
»Hast du Niu Yukiko und Noriyoshi getötet?« Die Stimme Einauges klang undeutlich, als käme sie aus der Ferne.
Raikōs Schmerz war so schrecklich, daß er nicht antworten konnte. Wieder schrie er auf, als der Kleine ihm erneut flüssiges Kupfer in die Wunde träufelte.
»Antworte, du Mistkerl. Hast du sie getötet?«
Jener Teil seines Verstandes, der noch eines klaren Gedankens fähig war, sagte Raikō: Wenn du gestehst, bist du verloren. Doch er konnte das neto-zeme nicht mehr aushalten. Die Schmerzen waren unerträglich, schlimmer als alles, was er je erlebt hatte – oder noch einmal erleben wollte.
»Ich kann mich nicht erinnern«, jammerte er, in der Hoffnung, seine Folterknechte zufriedenzustellen.
Doch Einauges hämisches Lachen attackierte Raikōs schmerzumnebelte Sinne. »Du hast sie getötet. Gib’s endlich zu!«
Plötzlich ergoß sich ein Strom aus flüssigem Feuer über Raikōs Rücken. Sein Schrei war so schrill, daß er ihm in der Kehle steckenblieb. Der kleinere der beiden Folterer hatte den gesamten Inhalt des Eimers über sein Opfer ausgegossen. Das flüssige Kupfer breitete sich über Raikōs Haut aus und verbrannte sie. Seine Arme und Beine zuckten in wilden Krämpfen; sein Körper wurde von erstickten Schluchzern geschüttelt. Sein Mut und seine Entschlossenheit schrumpften zu einem Nichts.
Raikō schluckte und stieß keuchend hervor: »Ja. Ich … habe sie … getötet.«
Er war sich kaum mehr bewußt, daß die Folterknechte ihn aus der Zelle trugen und auf einer Trage in den Gerichtssaal brachten. Durch eine Wolke aus Schmerz und Verwirrung hörte er den alten, kahlköpfigen Magistraten mit durchdringender Stimme sagen: »Du hast die Morde an Niu Yukiko und Noriyoshi gestanden, Raikō. Ich verurteile dich zum Tode.«
Es folgte eine kalte, alptraumhafte Reise auf der Trage. Immer wieder wurde Raikō bewußtlos, oder er phantasierte. Er träumte, mit einem gesichtslosen Gegner zu ringen – in einem Kampf, der niemals endete. Irgendwie wußte Raikō, daß sein Gegner der Dämon war, jener andere Teil seines Selbst, den er in den letzten drei Jahren gehaßt und bekämpft hatte. Die Zuschauer johlten und stampften mit den Füßen. Raikō taumelte rückwärts aus dem Ring …
… und erwachte. Er lag auf dem Boden und blickte zu einem blassen, farblosen Himmel empor. Nebelfetzen wogten um ihn herum; die geisterhafte weiße Kugel der Sonne schwebte über dem Horizont. Irgendwo in der Nähe
Weitere Kostenlose Bücher