Der Kirschbluetenmord
hat und wie sie aussieht. Ich glaube, diesen Schritt habt Ihr bereits getan, Sano -san .«
Sano saß vollkommen regungslos da, als er Itōs Worte in sich aufnahm. Mit nach innen gekehrtem Blick starrte er in die Flamme der Lampe. In seinem Innern formten sich Bilder und Gedanken. Sein sterbender Vater … die Pflichten, die Sano durch den Weg des Kriegers vorgegeben waren … Katsuragawa Shundai, der für das Ansehen und die Vergünstigungen stand, die sein Schützling erlangen konnte, falls er diese Pflichten erfüllte.
Dann aber drängten andere Bilder sich in den Vordergrund: Yukikos brennender Leichnam auf dem Scheiterhaufen; die weinende Wisterie; Raikōs kindlich-verwundertes Gesicht; der lachende Tsunehiko, wie er über die Tōkaido ritt. Diese Bilder erstrahlten heller als die anderen; sie leuchteten, als würden sie von Sanos brennendem Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit erhellt.
Die Zeit verging, und das Feuer verzehrte das Gespinst, das Sanos Unentschlossenheit bildete, und seine Unsicherheit, bis sein Geist rein und geläutert war und seine Ängste sich in einem leisen Lachen lösten, das seiner Selbsttäuschung galt. Er erkannte, daß Doktor Itō recht hatte. Er, Sano, hatte sich bereits entschlossen, die Jagd nach dem Mörder fortzusetzen. Selbst wenn er dafür seine Sicherheit und seinen Wohlstand opfern mußte, vielleicht sogar sein Leben. Er konnte seine Ehre nur wiedererlangen, indem er seinem eigenen Weg folgte; anderenfalls waren ihm Ehre und Selbstachtung für immer verwehrt. Zudem hing das Leben seines Vaters davon ab, die Verpflichtungen gegen sich selbst zu erfüllen. Sanos Grübeln, sein zielloses Umherirren waren nur der Versuch gewesen, vor dieser Einsicht zu fliehen.
»Danke für Eure Gastfreundschaft und Euer Verständnis, Itō -san« ,sagte er. »Beides war mir eine unschätzbare Hilfe. Aber jetzt brauche ich Euch nicht länger zur Last zu fallen.«
Sano erhob sich. Er fühlte sich gestärkt durch die Anteilnahme Itōs; doch Zuversicht verspürte er nicht. Er besaß jetzt keine Amtsgewalt mehr und konnte sich lediglich auf seine unzureichenden Kenntnisse stützen, was die Polizeiarbeit betraf. Wie sollte er da einen mächtigen, praktisch unbesiegbaren Mörder vor Gericht bringen?
»Es ist spät«, sagte Doktor Itō. »Die Stadttore dürften bereits geschlossen sein. Heute abend könnt Ihr nicht mehr nach Hause zurück. Mura wird Euch hier ein Bett richten. Schlaft, dann habt Ihr morgen früh die Kraft und die Klugheit, das zu tun, was Ihr tun müßt.«
20.
A
m nächsten Morgen befand Sano sich wieder im Wohnbezirk der Daimyō. In einen schäbigen Regenumhang aus Stroh gekleidet, wie die Bauern ihn trugen, und einen breitkrempigen Strohhut auf dem Kopf, ging er die breite Straße vor dem yashiki der Nius auf und ab und gab vor, Müll aufzusammeln. In Wahrheit beobachtete er das Haupttor des Niu-Anwesens. Während er mit seinem angespitzten Stecken irgendwelchen Abfall aufspießte und in seinen Korb warf, hoffte er inständig, daß die Torwächter einen Straßenkehrer, der vor dem Tor der Fürstenfamilie arglos seiner Arbeit nachging, überhaupt keiner Beachtung würdigten. Auf keinen Fall durften die Wächter ihn als den ehemaligen yoriki Sano Ichirō erkennen, dem der Zutritt zum Anwesen der Nius untersagt war und der nun den jungen Fürsten Niu Masahito heimlich und unerlaubt unter Beobachtung halten wollte. Falls die Nius oder Magistrat Ogyū dies herausfanden, würde man ihn verhaften, vielleicht sogar auf der Stelle töten.
Sano tat so, als würde er auf der Suche nach Abfällen den Blick über die Straße schweifen lassen, während er in Wahrheit auf das Erscheinen des jungen Fürsten wartete. Eine solche Verstellung lag ihm zwar nicht; aber er hatte keine andere Wahl, als darauf zu hoffen, daß Niu Masahito in dem Glauben, unbeobachtet zu sein, irgendwie den Beweis dafür lieferte, die Morde begangen zu haben. Sano besaß keine Amtsgewalt mehr; zudem hatte er keine Hilfe mehr zu erwarten, wie Katsuragawa Shundai ihm deutlich genug zu verstehen gegeben hatte. Außerdem besaß er nicht genug Geld, um Antworten zu kaufen. So blieb ihm keine andere Möglichkeit, als in dieser Verkleidung weiter zu ermitteln, auf eigene Faust – und darauf zu hoffen, nicht von den allgegenwärtigen Spionen Edos entdeckt zu werden.
Sano mußte daran denken, was Midori ihm über Yukikos Tagebuch erzählt hatte. Was, fragte er sich, hat Fürst Niu getan, daß er nicht einmal vor Mord
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