Der Kirschbluetenmord
Sandalen draußen neben der Tür stehen. Das überhängende Strohdach gewährte ihnen nur unzureichenden Schutz vor dem Regen; aber das spielte keine Rolle. Die Sandalen waren ohnehin durchnäßt. Als Sano die Hütte betrat, mußte er sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den niedrigen Türrahmen zu stoßen.
Dann stand er auf der Schwelle zu einem einzigen Zimmer, das die gesamte Hütte einnahm. Itō kniete in der Mitte des Raumes neben einem kleinen Kohlebecken; er hatte eine Lampe und ein Buch vor sich. In einer Ecke wusch Mura, der Eta, Kleidungsstücke in einem Holzkübel.
Der Arzt betrachtete Sano ohne jedes Anzeichen von Erstaunen.
»Irgendwie habe ich immer gewußt, daß Ihr noch einmal hierher kommt«, sagte er. »Warum steht Ihr dort zitternd im Türeingang? Kommt herein, und wärmt Euch auf. Mura -san? Hol Sake für unseren Gast, bitte. Und eine Schüssel Reissuppe.«
Mura ging zu einer behelfsmäßigen Küche, die aus einem Herd mit nur einer Flamme und einigen vollgestellten Regalen bestand. Sano kniete neben dem Kohlebecken nieder, dankbar für die Wärme. Er hatte überhaupt nicht gemerkt, wie naß und durchgefroren er war. Heftige Kälteschauer schüttelten seinen Körper und ließen seine Zähne klappern. Er konnte das Zittern der Hände, die er übers Kohlebecken hielt, nicht unterdrücken.
Itō erhob sich, ohne ein Wort zu sagen. Er nahm eine Decke aus einem Schrank und reichte sie seinem Besucher.
»Nein, danke«, sagte Sano. Er hatte gesehen, daß es die einzige Decke im Schrank war – die seines Gastgebers.
Doch Doktor Itō hielt ihm unbeirrt die Decke hin. »Zieht die nassen Sachen aus, und legt Euch die Decke um, oder Ihr werdet krank.« Er hielt inne; dann fügte er hinzu: »Bitte, tut, was ich sage. Ich habe nur selten Gelegenheit, jemandem Gastfreundschaft zu erweisen.«
Sano tat wie geheißen. Er trank den heißen Sake und aß die dampfende Reissuppe, die Mura ihm brachte. Als die Wärme in Sanos Körper zurückkehrte, erzählte er Doktor Itō alles, was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war.
Der Arzt hörte schweigend zu. Als Sano geendet hatte, fragte er: »Was werdet Ihr jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Sano. »Ich dachte, vielleicht könntet Ihr mir bei dieser Entscheidung helfen.«
»Ich verstehe. Und weshalb wollt Ihr meinen Rat?«
»Weil Ihr aus eigener Erfahrung wißt, wie man sich in einer solchen Lage fühlt. Und weil ich Euren Rat zu schätzen weiß.«
Für einen Moment betrachtete Doktor Itō seinen Besucher schweigend. Sein Blick war streng, jedoch nicht ohne Mitgefühl. Schließlich sagte er: »Sano -san , als ich verurteilt wurde, habe ich mein Heim verloren, meine Frau, meine Familie, mein Vermögen, meine Stellung, meine Diener, die Achtung meiner Kollegen, meine Gesundheit, meine Freiheit. Dieses Zimmer hier und die Leichenhalle sind meine ganze Welt.
Gewiß, mir sind meine Studien geblieben« – er zeigte auf das Buch – »und Mura, mein einziger Freund, der mir aus freien Stücken hilft. Doch alles andere habe ich verloren. Ich lebe in Schande, und in Schande werde ich sterben. Oft sind der Schmerz und die Scham beinahe unerträglich für mich. Deshalb kann ich Euch nicht dazu raten, Eure Zukunft Eurer Ideale wegen fortzuwerfen.«
Sano kam sich wie ein Mann vor, der eine geheime Schatztruhe geöffnet und nichts darin gefunden hatte. Irgendwie hatte er von Doktor Itō mehr erwartet als diese Worte, die er so oder ähnlich von jedem anderen auch gehört hätte.
Dann sagte Doktor Itō: »Aber ich will damit nicht sagen, daß Ihr Eure Ideale aufgeben sollt. Denn falls Ihr das tut, könnt Ihr Euch selbst nicht mehr ins Gesicht schauen.« Er hielt inne und betrachtete Sano mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und Anerkennung. »Ich weiß es, denn Ihr seid mir sehr ähnlich. Giri, ninjō« , schloß er mit einem Seufzer. »Tatemae, honne. «
»Ja.« Sano nickte. Die beiden klassischen Konflikte, die Doktor Itō erwähnt hatte, verdeutlichten die Situation, in der Sano sich befand: Die Pflicht stand dem Verlangen gegenüber und die Konformität dem Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Ein ewiges, unlösbares Problem.
»Jeder muß für sich selbst entscheiden, was ihm wichtiger ist …«, begann Doktor Itō.
Sano wartete. Die flackernde Lampe bildete eine Grotte aus Licht, in der sich nur Itō und er selbst befanden. In diesem Augenblick existierte keine äußere Welt.
»… und jeder muß wissen, wann er seine Entschei dung getroffen
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