Der Kirschbluetenmord
aufschlitzte.
Plötzlich erblickte er die Rettung: einen seiner Nachbarn, einen älteren Samurai, der auf einem braunen Pferd saß und offenbar ahnungslos auf Sano zu ritt.
»Tut mir leid, Wada -san «, sagte Sano. »Entschuldigt, aber ich muß mir Euer Pferd borgen.«
Der alte Mann stieß einen erstaunten Ruf aus, als Sano ihn vom Pferd zog.
»Ihr bekommt das Tier zurück, ich verspreche es«, rief Sano, als er sich auf den Rücken des Pferdes schwang und mit den Zügeln klatschte. Hoffentlich bleibe ich lange genug am Leben, um mein Versprechen einzulösen, ging es ihm durch den Kopf.
Er trieb das Pferd zum Galopp; dann riskierte er einen Blick nach hinten. Er sah, daß die Männer ihm noch immer folgten, nun aber rasch zurückfielen. Der dōshin schüttelte seine jitte, rief irgend etwas und blieb stehen, die freie Hand an den Leib gepreßt.
Ein Triumphgefühl durchströmte Sanos Adern. Er war frei! Aber wie lange mochte diese Freiheit währen? Der dōshin würde seine Kollegen in der ganzen Stadt alarmieren; schon bald würden sie und ihre Helfer sich an der Jagd nach dem Mörder Sano Ichirō beteiligen. Und wie er seine vorübergehende Freiheit nutzen sollte, wußte Sano selbst nicht.
Die Gasse war schummrig, menschenleer und bedrohlich. Zu beiden Seiten reihten sich heruntergekommene, schäbige Gebäude und bildeten einen Tunnel aus Dämmerlicht, über dem ein schmaler Streifen Himmel zu sehen war. Aus drei öffentlichen Toiletten, die einen stechenden Geruch verströmten, sickerten Rinnsale schmutzigen Wassers hervor. Doch Sano kam die Gasse wie gerufen, denn sie wirkte inmitten dieses armseligen Viertels von Nihonbashi, in dem die setsubun- Feiern ihrem lärmenden Höhepunkt entgegenstrebten, wie eine Insel der Stille.
Rasch blickte Sano sich um und vergewisserte sich, daß niemand ihm folgte. Dann ritt er auf Wadas Pferd in die Gasse hinein. Als er zwei nebeneinander liegende Gebäude entdeckte, bei denen die Türeingänge mit Gittern aus Bambusrohr versperrt waren, stieg er vom Pferd. Dann führte er das Tier in den winzigen Hof zwischen den zwei Gebäuden, so daß niemand, der die Gasse von dem einen oder dem anderen Ende betrat, ihn oder das Pferd sehen konnte. Sano lehnte sich an die Mauer, schloß die Augen und versuchte, zur Ruhe zu kommen. Nachzudenken.
Sein wilder, zielloser Galopp durch Edo hatte den Rest des Nachmittags in Anspruch genommen. Ihm war keine Zeit geblieben, an etwas anderes zu denken als daran, einen größtmöglichen Abstand zwischen sich und seine Verfolger sowie den Kanal zu bringen, an dem er O-hisas grausam verstümmelte Leiche gefunden hatte. Sano hatte keinen Plan; vorerst kümmerte ihn nur, daß er in der Menge untergetaucht blieb und der Polizei aus dem Weg ging. Was das betraf, hatte er bislang Erfolg gehabt, wenn auch nur mühsam: Auf den Straßen wimmelte es zwar von setsubun- Feiernden, die einem Flüchtenden viele Deckungsmöglichkeiten boten, doch bei den Polizisten, die Sano beobachtet hatte, konnte er eine erhöhte Wachsamkeit spüren. Für gewöhnlich waren sie an einem solchen Feiertag nachsichtig, was die Eskapaden betraf, die um sie herum stattfanden. Heute aber hatten sie scharf in jedes Gesicht geschaut, so, als würden sie jemanden suchen.
Ihn. Jetzt schon.
Mit zitternder Hand strich Sano sich übers Gesicht. Er mußte schnellstens seinen nächsten Schritt planen. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Moment seiner kostbaren Freiheit zu verschwenden. Doch die Geräusche, die von den Straßen in die Gasse drangen, peinigten seinen schmerzenden Kopf; Hoffnungslosigkeit und Trauer lähmten sein Denkvermögen. Die Wunden an seiner Schulter pochten, und geronnenes Blut hatte sie an der Kleidung festgeklebt. Seine Muskeln waren ermüdet und steif; er konnte nicht einmal mehr den Kopf drehen oder den linken Arm bewegen, ohne daß ihn Schmerz durchzuckte. Die Angst schien sich in seinem Körper zu einem Skelett aus Eisen verstofflicht zu haben. Sein ganzer Körper war wie ausgelaugt, und nie im Leben hatte er sich verlassener gefühlt. Er schauderte in seinem Umhang und dachte mit einem Anflug von bitterer Ironie daran, wie grundlegend ein paar Stunden sein ganzes Leben verändert hatten.
Bevor Sano den Leichnam O-hisas entdeckte, hatte er noch die Wahl gehabt, weiter auf Fürst Nius Fährte zu bleiben oder nicht. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er konnte den Ereignissen der letzten vierzehn Tage nicht einfach den Rücken zukehren und nach
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