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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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abgenommen hatte. Statt dessen winkte er dem Besucher, ihm nach draußen zu folgen, und führte ihn zu einer Hütte im hinteren Teil des Tempelgeländes. In einem Zimmer, das als Vorratsraum, Küche und Schreibstube zugleich diente, legte er Schreibzeug auf einen Tisch. Dann nickte er Sano zu und ging.
    Sano nahm die Maske ab, um in der schummrigen Hütte sehen zu können. Er vermischte die Tusche mit Wasser und tauchte den Pinsel hinein.
     
    Setsubun, Genroku I.
    Chichive und Hahave,
     
    schrieb er und bedauerte, daß er keine Zeit hatte, die formellen Ausdrücke der Ehrerbietung zu benutzen, mit denen er normalerweise einen Brief an die Eltern begonnen hätte.
    Wenn Ihr diesen Brief bekommt, lebe ich vielleicht nicht mehr. Sollte das der Fall sein, möchte ich hiermit den heiligen Eid vor Euch ablegen, daß ich die Frau nicht ermordet habe, die heute am Kanal gefunden wurde – ganz gleich, was die Leute Euch glauben machen wollen.
    Doch untätig werde ich dieses Schicksal und die Schande, die meine Verurteilung und Hinrichtung über unsere Familie bringen würde, nicht hinnehmen. Ich muß versuchen, meine Unschuld zu beweisen und den wirklichen Mörder vor Gericht zu bringen. Um dies zu erreichen, muß ich eine bestimmte Schriftrolle, die zur Zeit noch im Besitz Fürst Niu Masahitos ist, zuerst an mich bringen und sie anschließend den Behörden übergeben. Diese Schriftrolle beweist, daß Fürst Niu des Verrats schuldig ist, und sie untermauert meine Überzeugung, daß er vier Menschen getötet und dafür gesorgt hat, daß ich nun auf der Flucht vor dem Gesetz bin. Auf diese Weise möchte Fürst Niu seine Verschwörung geheimhalten, deren Ziel die Ermordung Tokugawa Tsunayoshis ist.
    Gelingt mir mein Vorhaben, würde ich meine Pflicht gegenüber unserem höchsten Herrn erfüllen, dem Shōgun, indem ich ihn vor dem Tod durch die Hand Fürst Nius und dessen Mitverschwörern bewahre.
    Auch wenn ich weiß, daß ich vielleicht nie mehr zurückkehre, muß ich Euch jetzt verlassen. Bitte, verzeiht mir all das Leid, das ich über Euch gebracht habe. In ewiger Dankbarkeit, Liebe und Achtung,
    Ichirō
     
    Sano überflog seine ungelenk formulierte Nachricht und hoffte, daß sie seinen Eltern ein wenig Trost spenden konnte und daß sie ihnen zumindest die Gründe für seine Taten deutlich machte. Er löschte die feuchte Tusche ab und faltete und versiegelte den Brief. Dann schrieb er die vollen Namen seiner Eltern darauf und beschrieb mit kurzen Worten den Weg bis zu ihrem Haus. Schließlich setzte er die Maske wieder auf und ging nach draußen, wo der Priester ihn erwartete.
    »Würdet Ihr bitte dafür sorgen, daß diese Nachricht heute noch überbracht wird?« fragte er und reichte dem Priester den Brief, zusammen mit dem Rest seines Geldes. »Es ist sehr wichtig.«
    Der Priester nickte und nahm das Schreiben an sich. Als er Sano ins Gesicht schaute, legte er die Stirn in Falten – allerdings nicht, weil er die Bitte des Fremden als Zumutung empfand. Der Priester schien vielmehr zu spüren, daß Sano sich in einer ernsten, bedrohlichen Lage befand, wie seine nächsten Worte bewiesen:
    »Gibt es kein Zurück von dem gefährlichen Weg, den Ihr einschlagen wollt?«
    Sano nahm den Blick vom Priester und schaute auf das Gelände vor dem Tempel, wo eine Laienschauspielertruppe eine behelfsmäßige Bühne errichtet hatte. Der Held des Stückes war als Samurai gekleidet und sang ein Klagelied über seinen Sohn, der in einer Schlacht gefallen war. Das begeisterte Publikum bejubelte die qualvollen Schreie und die verzweifelten Gesten des unglücklichen Mannes.
    »Nein«, antwortete Sano auf die Frage des Priesters. Sein weiteres Schicksal war ihm nun vorherbestimmt – genauso wie den Figuren im Theaterstück. »Ich kann nicht mehr zurück.«

26.
    A
    ls Sano kurz nach Anbruch der Dunkelheit in den Wohnbezirk der Daimyō gelangte, stellte er fest, daß die breiten Prachtstraßen eine dramatische Veränderung erlebt hatten.
    Hier, wie schon in Nihonbashi, hatte der setsubun seinen Zauber gewirkt. Allerdings hatte dieser Zauber sich hier sehr viel prächtiger entfaltet. An den Wänden eines jeden yashiki hingen runde Laternen, deren orangefarbenes Licht den kalten Abend erwärmte. Die Tore standen weit offen, um Prozessionen prächtig geschmückter Sänften hindurchzulassen, die von Heerscharen von Dienern eskortiert wurden. Samurai ritten oder flanierten zu Fuß über die Straßen und riefen einander fröhliche Grüße zu. Manche

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