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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Außerdem hatte er nun keinen Grund mehr, sparsam mit seinem Geld umzugehen. Falls er diese Nacht überlebte – und falls er mit seinem Plan Erfolg hatte –, konnte er sich wieder irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen. Falls der Plan freilich fehlschlug, so reichte das bißchen Geld, das er noch bei sich hatte, nicht einmal für seine Einäscherung. Jetzt wünschte er sich, er hätte Wada bereits das Pferd bezahlt, das er dem alten Mann vielleicht nie mehr würde zurückbringen können.
    Er trieb den Braunen in Richtung Straße. Als er ans Ende der Gasse gelangte, verlangsamte er das Tempo, um sich den purpurnen Umhang anzulegen, der mit goldenen Pfingstrosen bedruckt war. Sanos Langschwert verursachte eine auffällige Ausbeulung im Stoff. Er hoffte, daß es niemand bemerkte und sich die Frage stellte, warum ein Samurai seine Waffen versteckte.
    Kaum war er auf der Straße angelangt, fand Sano sich inmitten feiernder Menschen wieder. Maskierte Gesichter starrten ihn an: Drachen, Affen, Dämonen, Tiger. Gruppen umherziehender Musikanten spielten auf Trommeln, Flöten und Rasseln. Ein Schauer aus Kügelchen regnete auf Sano nieder, als er an einem Haus vorüberkam, auf dessen Dach eine Gruppe Frauen stand.
    »Böse Geister, geht hinaus! Glück, komm herein!« riefen sie im Chor und warfen geröstete Sojabohnen als Glücksbringer auf die Straße hinunter.
    Sano ritt in südwestlicher Richtung aus Nihonbashi hinaus in Richtung des Daimyō-Wohnviertels. Ein Teil seiner Aufmerksamkeit war auf die Feiernden gerichtet: Zum einen hielt Sano nach den dōshin Ausschau; zum anderen konzentrierte er sich darauf, einen Weg durch die Menge zu finden, ohne jemanden niederzureiten, und die Häuserblocks nach demjenigen abzusuchen, den er zu finden hoffte.
    Am Torii-Tor eines Shintō-Tempels, der sich zwischen zwei Geschäften befand, stieg Sano vom Pferd und band das Tier fest. Dann ging er über das Tempelgelände, auf dem die Bewohner der umliegenden Häuser sich vor Marktständen drängten, an denen Imbisse und amazake verkauft wurden, ein süßes Gebräu aus vergorenem Reis, das an Festtagen getrunken wurde. Die inneren Tore trugen ein langes, gewundenes Seil, das aus Reisstroh gedreht war und den geheiligten Ort abgrenzte, sowie geflochtene Streifen aus weißem Papier und schließlich Büschel von Farnkraut. Draußen vor dem kleinen, mit Stroh gedeckten Tempel, der mit Kiefernzweigen und Bambus geschmückt und mit weißen Fahnen behängt war, auf denen das Wappen der Tokugawas prangte, blieb Sano an dem steinernen Wasserbecken stehen, um sich die Lippen zu befeuchten. Er warf eine Münze in den Opferstock, zog am Seil, so daß der Gong ertönte, und klatschte im Gebet zweimal in die Hände. Nachdem er seine Sandalen ausgezogen und sie vor der Eingangstür neben die anderen gestellt hatte, betrat er den Tempel.
    Als er nach dem Priester Ausschau hielt, sah er eine Familie – Vater, Mutter und zwei Kinder – vor einem Schrein stehen. Die Mutter wickelte ein Päckchen Gebäck aus, um es dem steinernen Abbild Inaris zu opfern.
    »Wir überreichen diese Gabe, damit der Fuchsgeist uns im neuen Jahr kein Unglück bringt«, erklärte der Vater den Kindern.
    Da seine Aussichten auf Glück und Segen fast auf den Nullpunkt gesunken waren, kam Sano sich der Familie weit fern vor, so, als würde ein unsichtbarer Wandschirm ihn von der normalen Welt trennen.
    »Was ist? Warum so traurig? Tage wie der heutige sind zum Feiern da.«
    Sano wandte sich um und sah, daß der Priester neben ihm stand, ein alter Mann mit einem Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel. Er trug einen zylinderförmigen schwarzen Hut auf dem kahlen Kopf und einen tiefroten Umhang über einem weißen Kimono. Als er lächelte, bildeten sich Fältchen in den Augen- und Mundwinkeln.
    »Habt Ihr Kummer?« fragte er. Sein Gesicht wurde ernst vor Mitgefühl. »Kann ich Euch irgendwie helfen?«
    Niemand konnte ihm helfen. Er mußte allein mit seinem Kummer und seinen Problemen fertig werden. Doch Sano war hierher gekommen, den Priester um eine kleine Gefälligkeit zu bitten, die vielleicht jenen Menschen half, die sich um ihn sorgten.
    »Ja«, sagte er. »Könnte ich einen Schreibpinsel, Tusche und ein Blatt Papier bekommen? Und könnt Ihr mir einen Ort zuweisen, an dem ich ungestört schreiben kann?«
    Falls der Priester diese Bitte für eigenartig hielt, ließ er es sich nicht anmerken; er schien es auch nicht als seltsam zu betrachten, daß Sano die Maske nicht

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