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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Hause gehen. Denn dort würden bereits die dōshin auf ihn warten, zweifellos mit einer kleinen Armee von Helfern als Verstärkung, um ihn entweder ins Gefängnis von Edo zu bringen oder ihn auf der Stelle zu töten. Verglichen mit diesen Aussichten war die Schande, die er bisher über seine Familie gebracht hatte, so gut wie bedeutungslos.
    Jetzt konnte er sich nicht mehr in die Verborgenheit zurückziehen. Als gesuchter Verbrecher würde er für den Rest seines Lebens auf der Flucht sein, und das ganze Land würde Jagd auf ihn machen. Selbst wenn er Geld genug besessen hätte, sich selbst mit Proviant und Wada -sans Pferd mit Futter zu versorgen – Sano wußte, daß es aussichtslos war, in die Provinzen zu flüchten. Inzwischen würde Magistrat Ogyū Boten zu den Wachen an den Fernstraßen-Kontrollstellen ausgeschickt haben, mit dem Befehl, nach Sano Ichirō Ausschau zu halten. Sanos Suche nach Vergeltung hatte sich mit dem schlichteren, aber stärkeren Wunsch nach Überleben vermischt.
    Aus seinem tiefsten Innern holte Sano alle verbliebene Kraft hervor – eine kleine, jedoch tapfere Streitmacht, die aber so sehr geschrumpft war, daß nur noch die stählerne Härte des Samurai geblieben war, die Sano bei der Ausbildung durch den Vater erworben hatte. Sano hatte keine andere Wahl, als seine Unschuld zu beweisen oder bei diesem Versuch zu sterben. Andernfalls war sein Leben so oder so zu Ende. Falls er ein Flüchtiger blieb, war alles, was ihm je etwas bedeutet hatte, für immer verloren: seine Familie, seine Freunde und seine Ehre. Es wäre ein Verstoß gegen seine wichtigste Pflicht dem höchsten Herrn des Landes, dem Shōgun, gegenüber gewesen, wenn Sano geflüchtet wäre, um sein Leben zu retten, und dabei in Kauf genommen hätte, daß Fürst Niu den Shōgun ermordete. Die schlimmste aller Schanden! Sanos Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. Es war schon schwierig genug für ihn gewesen, Hilfe von den Behörden zu bekommen. Jetzt war es unmöglich. Jeder, an den Sano herantrat, würde ihn festnehmen, bevor er auch nur einen Satz sagen konnte.
    Das Geräusch von Schritten riß Sano aus seinen düsteren Grübeleien. Beruhigend legte er dem Pferd die Hand an den Hals und spähte vorsichtig um eines der Bambusgitter herum. Zu seiner Erleichterung war es kein dōshin, der in seine Richtung kam, sondern ein Mann in einem auffällig bunten, purpurn und goldenen Umhang und einem seltsam flachen Hut. Offensichtlich betrunken, ging er mit schwankenden Schritten über die Gasse zu den drei öffentlichen Toiletten hinüber. Sano erkannte, daß es kein Hut war, den der Mann auf dem Kopf trug, sondern eine Maske, die er sich nach hinten aus dem Gesicht gestreift hatte. Der Fremde verschwand mit wankenden Schritten in der mittleren der drei identischen Holzhütten.
    Der Anblick des setsubun- Kostüms bewegte Sano zum Handeln. Für den Plan, der in seinem Hirn allmählich Gestalt annahm, war eine Verkleidung unerläßlich. Er stieg aufs Pferd, ritt gemächlich zu den Toilettenhäuschen hinüber und wartete.
    Der Betrunkene kam mit taumelnden Schritten wieder zum Vorschein. Mit zwei blitzschnellen Griffen riß Sano ihm die Maske vom Kopf und den Umhang von den Schultern.
    »He! Was …?«
    Der Mann wirbelte herum und plumpste aufs Hinterteil. Sano stopfte sich den Umhang unter den Arm, schnürte sich die Maske vors Gesicht und trat dem Pferd die Hacken in die Seiten. Er stellte fest, daß die Maske ein eiserner Gesichtsschutz war, den einst vielleicht ein General oder ein anderer hochrangiger Offizier getragen hatte. Sie war aus schwarzem Metall und besaß Schlitze für Augen und Mund sowie einen borstigen schwarzen Schnurrbart aus Pferdehaar.
    »Dreckiger Samurai!« rief der Betrunkene Sano hinterher und schüttelte die Faust. »Du glaubst wohl, du kannst dir einfach nehmen, was dir gefällt? Lump! Dieb!«
    Der Mann hatte recht: Sano war jetzt tatsächlich zum Dieb geworden. Er riß das Pferd herum, um mit seiner Beute davonzugaloppieren. Was für eine Ironie, daß er bei seiner Jagd nach einem Mörder selbst zum Verbrecher geworden war! Sano zügelte das Pferd, wandte sich im Sattel um und nahm ein paar Münzen aus seinem Geldbeutel, die er dem Betrunkenen zuwarf. Klimpernd fielen sie zu Boden und rollten umher.
    »Nehmt dieses Geld als Bezahlung«, rief Sano. Er konnte jeden Augenblick getötet werden, und er wollte nicht, daß seine letzte Tat auf Erden ein Diebstahl war, und mochte er noch so notwendig sein.

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