Der Kirschbluetenmord
eisernen Dornen gespickt waren. Mit einemmal wußte Sano, weshalb Fürst Niu die Leiche des Mädchens hierher hatte bringen lassen, damit Sano sie entdeckte.
Der dōshin – ein schwerer, muskulöser Mann – gelangte ans Ende der Brücke und kletterte unbeholfen die Uferböschung des Kanals hinunter. »Mörder!« rief er. »Dafür werdet Ihr wie ein gemeiner Verbrecher sterben, Sano Ichirō. Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, wird Euer Kopf auf einem Stab am Flußufer stecken!«
Es war eine Falle. Fürst Niu gab sich offensichtlich nicht damit zufrieden, daß man Sano aus dem Amt des yoriki verstoßen hatte. Der Fürst wollte die Nachforschungen Sanos ein für allemal beenden, indem er ihn als Mörder O-hisas hinstellte. Es spielte keine Rolle, daß sich kein Blut an Sanos Schwert befand, daß es keine Zeugen dieses vermeintlichen Verbrechens gab und daß Sano gar kein Motiv hatte, O-hisa zu töten. Durch ihren Reichtum und ihren Einfluß hatten die Nius sein Schicksal bereits gekauft, und Magistrat Ogyū würde es besiegeln. Obwohl ein Samurai für gewöhnlich nicht wie ein Verbrecher behandelt wurde, wenn er einen gemeinen Bürger getötet hatte, machte die scheußliche Verstümmelung O-hisas ihre normalerweise unbedeutende Ermordung zu einer Greueltat, zu einem strafbaren Verbrechen. Nicht einmal sein Rang als Samurai würde Sano vor der Hinrichtung bewahren. Fürst Niu brauchte sich nie wieder Sorgen darüber zu machen, daß Sano sich einmischte.
Diese Erkenntnis traf ihn wie ein lautloser, blendender Blitzschlag. Während er vor Schreck und Entsetzen wie angewurzelt dastand, rutschten die Helfer des dōshin so rasch die Uferböschung hinunter, daß sie vor ihrem Herrn und Meister unten anlangten. Sano wußte, daß er irgend etwas unternehmen mußte, um nicht festgenommen zu werden. Denn wenn man ihn erst einmal ins Gefängnis von Edo gebracht hatte, würde er – wie Raikō und zahllose andere – unter der Folter jede Tat gestehen, auch wenn er sie gar nicht begangen hatte. Sanos einzige Hoffnung auf Überleben bestand darin, lange genug in Freiheit zu bleiben, um den Beweis zu erbringen, daß er O-hisa nicht getötet hatte und daß Fürst Niu sowohl ein Verräter als auch ein Mörder war.
»Keine falsche Bewegung!« rief der dōshin, als er keuchend und schwitzend hinter seinen Helfern erschien. »Gegenwehr ist sinnlos. Wir sind zu dritt, und Ihr seid allein. Ergebt Euch wie ein wahrer Samurai in Euer Schicksal.«
Die Helfer stürmten auf Sano zu. Der eine entrollte das Seil, das er in der einen Hand hielt. Der andere hob seine stachelbewehrte Keule. Sano wich zurück, wobei er sich verzweifelt nach einem Fluchtweg umschaute. Einfach loszurennen – die naheliegendste, aber auch feigste Möglichkeit – würde ihm nicht helfen. Aber er kannte sich hier aus; er war in dieser Gegend aufgewachsen. Dicht hinter ihm, nur einige Schritte entfernt, führte eine zweite, fast senkrechte Böschung bis zum Kanal hinunter. Sie war mit glatten Steinplatten belegt und bot Händen oder Füßen keinerlei Halt. In seiner Jugend hatte Sano oft versucht, diese gepflasterte Böschung zu erklimmen; doch es war ihm nie gelungen. Stets war er in den Kanal gerutscht. Der Wasser war zu dieser Jahreszeit nicht tief, allenfalls hüfthoch. Doch falls er abrutschte, würden Sanos Füße so tief in den zähen, schlammigen Untergrund einsinken, daß er keinen Schritt mehr tun konnte. Und die normale Böschung hinaufzuflüchten, hatte ebenfalls keinen Sinn. Der dōshin und seine Helfer würden ihn erwischen, bevor er oben angelangt war und über den Holzzaun klettern konnte. Sano saß in der Falle. Es gab nur eine Möglichkeit, einer Gefangennahme zu entgehen: Er zog sein Schwert.
Dennoch stürmte der erste Helfer des dōshin auf ihn los. Vermutlich hatte er Sanos anfängliches Zögern als Zeichen dafür ausgelegt, daß der Gegner nicht kämpfen wollte. Mit ausgebreiteten Armen griff der Mann Sano an. Zu spät sah er das Schwert; zu spät versuchte er, seinen Vorwärtsschwung abzufangen. Er senkte die Keule, um sich zu schützen.
Sanos Klinge zischte herab und fügte dem Mann vom Hals bis zur Hüfte eine Schnittwunde zu. Der Verletzte schrie auf und sank zu Boden. Seine Hände krallten sich in die aufgeschlitzte Vorderseite seines Kimonos, die sich augenblicklich dunkel von seinem Blut färbte.
Der dōshin und sein zweiter Helfer prallten gegen den Gestürzten und taumelten zurück, wobei sie vor Schreck und Erstaunen aufschrien.
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