Der Kirschbluetenmord
von ihnen trugen ihre schönsten Seidengewänder, andere waren grellbunt wie Kinder kostümiert, wieder andere waren wie Kriegerfrauen oder legendäre Helden gekleidet. Irgendwo brannte ein Freudenfeuer; der Rauch von Holz stieg in die Luft und vermischte sich mit den schweren, süßen Düften von Parfüm und Haaröl. Jongleure und Gaukler, Schauspieler und Musikanten führten voller Hingabe ihre Künste vor und hofften darauf, von den Reichen ein paar Münzen zu ergattern. Bettler riefen nach milden Gaben. Mönche verkauften Amulette, die im neuen Jahr Glück und Erfolg bringen sollten.
Noch immer mit Umhang und Maske verkleidet, ritt Sano im Galopp zum yashiki der Nius. Sein Herz schlug eine rasche, drängende Kadenz zum rhythmischen Klappern der Hufe: schnell, schnell, schnell! Er mußte einen Weg finden, der auf das Anwesen der Nius führte, und noch in dieser Nacht die Schriftrolle an sich bringen, solange er sich frei und unerkannt in der bunt kostümierten Menge bewegen konnte und die Aufmerksamkeit der Polizisten vom Durcheinander der setsubun -Feiern in Anspruch genommen wurde.
Die Furcht und die Aufregung jagten Angstschauer durch Sanos Körper. Dies war seine letzte Chance, Fürst Niu Einhalt zu gebieten und sich selbst von dem Verdacht des Mordes an O-hisa zu entlasten. Sein Plan mußte gelingen!
Sano hatte Zeit genug gehabt, sich die Schwierigkeiten vor Augen zu führen, die sein Plan beinhaltete. Das erste Problem – auf das schwerbewachte Anwesen zu gelangen – war ihm unlösbar erschienen. Jetzt aber stellte er fest, daß die Sicherheitsmaßnahmen in diesem Bezirk ungewöhnlich lasch gehandhabt wurden. Die meisten Wächter hatten ihren Posten verlassen und sich unter die Menschenmenge gemischt, wobei sie sich mitunter weit von den Toren entfernten, die sie bewachen sollten. Gelächter und Gesang drangen aus den Kasernen innerhalb der Mauern um die einzelnen yashiki: Die Gefolgsleute der Daimyō feierten, statt Wache zu halten. Heute war ein Feiertag in Friedenszeiten; niemand rechnete mit irgendeinem Angriff.
Vielleicht, sagte sich Sano, hast du doch eine Chance. Aber als er das Tor des Niu-Anwesens erreichte, zerrte er bei dem Anblick, der sich ihm bot, so heftig an den Zügeln, daß das Pferd wild den Kopf nach hinten warf. Wieder durchströmte Sano eine eiskalte Woge der Angst.
Der dōshin, der ihn am Kanal bei der Leiche O-hisas beinahe festgenommen hätte, war in ein angeregtes Gespräch mit den Wachtposten vertieft. In der Nähe standen ein weiterer dōshin und fünf Helfer. Die Waffen in den Händen, musterten sie mit schmalen, mißtrauischen Augen die Menschenmenge.
Sano zwang sich, gelassen an den dōshin und den Wachtposten vorbeizureiten. Die Haut prickelte ihm unter den umherschweifenden Blicken der Männer; aber wäre er jetzt losgeprescht, hätte er nur ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vor Angst waren seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt und ließen seine kalten, schmerzenden Muskeln heftig zittern. Seine Wunden hatten sich entzündet und pochten schmerzhafter als zuvor. Tief holte er durch den Mundschlitz der Maske Luft. Sein Körper entspannte sich ein wenig – um sofort wieder zu verkrampfen, als er dicht hinter sich einen Ruf hörte. Dann aber stürmte der Rufer an Roß und Reiter vorbei, ohne sie zu beachten. Doch Sanos Beklommenheit blieb.
Er gelangte zur gegenüberliegenden Seite des Niu- yashiki; ein Ritt, der wegen der feiernden Menschenmengen und der Größe des Anwesens fast eine Stunde in Anspruch nahm. Eine Gasse trennte das Grundstück der Nius vom benachbarten yashiki. Sano ritt ein Stück in die Gasse hinein; dann zügelte er das Pferd und stieg ab.
Die Gasse war lang und schmal, und die Dunkelheit wurde nur schwach vom gelben Streulicht der Lampen in den Seitenstraßen und dem silbernen Licht der Sterne erhellt. Sano lauschte und schaute sich um, als er das Pferd tiefer in die Gasse hineinführte. Er begegnete niemandem. Kein Laut war hinter den Mauern zu hören; nur der gedämpfte Lärm auf den fernen Straßen drang an Sanos Ohren. Das hintere Tor des Niu-Anwesens stand dem benachbarten yashiki genau gegenüber. Beide waren unbewacht. Hier konnte er vielleicht unbemerkt das yashiki betreten – falls er es betreten konnte.
Sano betrachtete die Mauern. Ihre glatte Oberfläche aus Putz und Steinplatten bot den Händen keinen Halt. Die holzvergitterten Fenster der Kasernen ragten über die Mauerränder empor und waren für Sano unerreichbar. Die
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