Der Kirschbluetenmord
des Aufpralls, indem er die Knie spannte und sich nach hinten abrollte, um zu vermeiden, daß er sich die Beine brach. Durch das Abrollen trug seine tiefste und schmerzhafteste Wunde – die an der linken Schulter – für einen Augenblick das volle Gewicht seines Körpers. Beinahe hätte Sano einen wilden Schrei der Pein ausgestoßen. Er erstickte ihn, indem er sich so fest in die Wange biß, daß er Blut schmeckte. Seine Augen tränten, als er sich zwang, aufzustehen.
Er zog die schweren, eisenbeschlagenen Balken zurück, öffnete das Tor, führte das Pferd auf das Niu-Anwesen und band er die Zügel des Tieres am Tor fest. Sano hoffte, das Pferd an Ort und Stelle vorzufinden, wenn er zurückkehrte – falls er zurückkehrte.
Zwar hatte er die Probleme gemeistert, auf das yashiki der Nius zu gelangen und das Pferd zu verstecken; nun aber sah er sich einer ganzen Reihe weiterer Schwierigkeiten gegenüber. Wie sollte er die Schriftrolle finden? Befand sie sich überhaupt im Haus? War es nicht viel wahrscheinlicher, daß Fürst Niu die Rolle mit zurück in die Stadt genommen hatte, um das geheime und brisante Schriftstück in Sicherheit zu wissen und stets griffbereit zu haben? Selbst falls es ihm gelang, die Rolle zu finden und vom Anwesen zu fliehen – wie sollte er an hohe Beamte herankommen, ohne gefaßt und getötet zu werden? Schließlich war er jetzt ein gesuchter Schwerverbrecher. Sano verdrängte diesen letzten, beängstigenden Gedanken. Er würde sich mit jedem Problem befassen, sobald es akut wurde. Jetzt galt es erst einmal, in dieser riesigen, Sano unbekannten Villa Fürst Nius Wohnbereich ausfindig zu machen.
Sano eilte über das freie, deckungslose Geländestück, bei dem es sich um einen Reitplatz zu handeln schien. Trotz der Dunkelheit hatte Sano das Gefühl, deutlich sichtbar zu sein, auffällig und verletzlich. Er umrundete den Teich, in dem die Männer des Daimyō das Schwimmen übten und an dessen Ufer sie Waffentraining machten. Beim plötzlichen Anblick zweier Gestalten, die sich aus der Finsternis vor ihm schälten und näher kamen, blieb Sano abrupt stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Dann erkannte er, daß es Zielscheiben für die Bogenschützen waren, welche die Größe und die Umrisse eines Menschen besaßen. Erschöpft, aber erleichtert erreichte Sano die Gebäude. Doch er wappnete sich bereits gegen die Gefahren, die ihm nun bevorstanden.
Auf das erste Problem traf er, als er an den Stallungen vorüberschlich. Außer dem Stampfen und Schnauben der Pferde hörte er Gelächter; in den Unterkünften der Stallburschen brannten Lampen. Zudem sah er Licht in Gebäudeflügeln, in denen vermutlich die Diener und Gefolgsleute untergebracht waren. Geduckt schlich er unter den Fenstern entlang und stahl sich zwischen Ställen, Wohnhütten und anderen Gebäuden hindurch. Dann durchquerte er einen Garten, der jenem ähnelte, den er bei seinem ersten Besuch auf dem Anwesen der Nius gesehen hatte. Schließlich gelangte er zur eigentlichen Villa, einem riesigen Gebäude, das drohend vor ihm aufragte.
Die weißgetünchten Wände schimmerten geisterhaft im Sternenlicht. Darüber erhoben sich stufenförmige Dächer, die in der Dunkelheit wie auf- und absteigende schwarze Wogen aussahen. Sano erkannte, daß die Villa sich aus einer Vielzahl von Gebäuden zusammensetzte, die durch niedrige Wände oder überdachte Gänge miteinander verbunden waren. Ihm wurde klar, daß die Anlage des Niu -yashiki sehr viel komplizierter war als die der Sommervilla. Wie sollte er da jemals die Unterkünfte des jungen Fürsten finden, ganz zu schweigen von der Schriftrolle?
Durch das nächste Tor gelangte Sano auf einen schmalen Gehweg, der zwischen den kahlen, dicken Mauern feuerfester Lagerhäuser verlief. Sano folgte dem Gehweg bis vor eine Mauer; dort mußte er nach links abbiegen. Ein breiterer Weg führte ihn zwischen hohen Holzzäunen hindurch, über denen sich Ziegeldächer erhoben; wieder und wieder beschrieb dieser Weg einen scharfen Knick, so daß Sano bald nicht mehr wußte, in welche Richtung er ging. Er konnte nur hoffen, daß er sich zum Zentrum der verschachtelten Villa bewegte, welches der Familie des Daimyō vorbehalten war. Geräusche von Stimmen drangen an seine Ohren, von den Mauern verändert und verzerrt. Sano wußte nicht, ob er sich der Straße näherte, die am yashiki vorüberführte, oder ob er sich davon entfernte. Kamen diese Stimmen von außerhalb des Anwesens, oder stammten sie von
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