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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Kasernen erstreckten sich wie ein einziges geschlossenes Bauwerk entlang der Mauer; einen Zwischenraum gab es nur an der Stelle, an der die Kasernengebäude sich leicht erhoben und ein Wachthaus über dem dicken Holzbohlentor bildeten. Sano ließ den Blick weiter nach oben schweifen. Ah, ja …
    Kunstvoll geschnitzte Kreuzblumen krönten die Spitzen an beiden Enden des Daches über dem Wachthaus. Sano holte das Seil unter seinem Umhang hervor. Er wickelte es ab und band das eine Ende zu einer Schlinge zusammen, die er mit einem Schleifknoten sicherte. Er blickte rasch nach links und rechts. Niemand war zu sehen. Sano schleuderte die Schlinge zur rechten Kreuzblume hinauf.
    Beim ersten und zweiten Versuch verfehlte er das Ziel weit. Ihm brach der Schweiß aus. Die metallene Maske beschlug von innen und wurde feucht auf seinem Gesicht. Wieder warf Sano das Seil. Diesmal fiel die Schlinge genau über ihr Ziel. Er straffte das Seil, und der Schleifknoten zog sich zusammen. Sano zerrte am Seil. Es hielt.
    Zögernd schaute er in die Höhe, die Zügel des Pferdes in der Hand. Er konnte das Tier nicht hier stehen lassen. Die Gefahr war zu groß, daß ein patrouillierender dōshin es entdeckte. Das beste wäre, das Pferd fortzuscheuchen; aber damit hätte Sano sein wichtigstes Fluchtmittel preisgegeben. Trotz des großen Risikos mußte er das Pferd durch das Tor auf das Niu -yashiki holen, sobald er die Mauer überklettert hatte.
    Sano schlang die Zügel um einen Pfosten. Dann packte er das Seil und begann seine Klettertour, indem er sich in die Höhe hangelte, wobei er die Füße gegen die Mauer stemmte. Vor Anstrengung zuckte ein greller Schmerz durch seine verletzte Schulter, und für einen Moment kniff er stöhnend die Augen zusammen. An der warmen Feuchtigkeit, die ihm über den Rücken lief, erkannte er, daß die verschorften Wunden wieder aufgeplatzt waren und bluteten. Das rauhe Seil brannte auf seinen Handflächen.
    Die Kletterei schien kein Ende zu nehmen. Von unten hatte die Mauer doch gar nicht so hoch ausgesehen! Doch schließlich gelangte Sano auf das Dach des Wachthauses. Keuchend blieb er liegen. Vor Erschöpfung konnte er sich kaum mehr rühren. Falls ihn jetzt jemand entdeckte, würde er sich kampflos ergeben müssen. Als Sano wieder halbwegs zu Kräften gekommen war, hob er den Kopf und schaute auf das Anwesen hinunter.
    Hinter einem breiten, dunklen Streifen offenen Geländes konnte er schemenhafte Gebäude erkennen. Nichts rührte sich; kein Laut war zu hören. Entweder war jeder Bewohner ausgegangen, um setsubun zu feiern, oder sie hielten sich allesamt im vorderen Teil des yashiki auf. Aber wie lange?
    Rasch band Sano das Seil los und verstaute es wieder unter seinem Umhang. Er wollte keinen Beweis für sein heimliches Eindringen hinterlassen; außerdem konnte es sein, daß er das Seil noch einmal brauchte. Auf dem Bauch rutschte er das schräge Dach hinunter. Mit beiden Händen hielt er sich am Dachrand fest und hangelte sich in die Tiefe.
    Sano wollte sich gerade fallen lassen, als er draußen vor der Mauer Stimmen und schnelle Schritte vernahm. Die Wachtposten der Nius! Falls sie seinen Aufprall hörten, würden sie nachsehen kommen. Die Hände fest an den Dachrand gekrallt, pendelte Sano hoch über dem Boden.
    Die Schritte kamen näher. Sanos Hände und Arme begannen zu schmerzen; dann zitterten sie vor Ermüdung. Krampfartige Schmerzen durchzuckten die Arme bis in die verletzte Schulter. Sano biß die Zähne zusammen und klammerte sich fest. Jetzt konnte er bereits die Worte der Männer hören.
    »Hier ist es stiller als in einem Grab.«
    »Trotzdem. Besser, wir schauen uns rasch um; dann gehen wir wieder nach vorn.«
    Sano erkannte die zweite Stimme: Sie gehörte dem dōshin. Der Gedanke, daß sein Pferd vor dem Tor des Niu- yashiki stand und ihm jederzeit eine schnelle Flucht ermöglichte, konnte Sanos Angst nicht lindern. Er versuchte, seinen Schmerz und die Furcht durch schiere Willenskraft zu verdrängen, und betete, daß seine Verfolger verschwinden mögen.
    »Hier ist niemand«, sagte der dōshin schließlich. »Gehen wir.«
    Die Schritte und Stimmen wurden leiser. Stumm dankte Sano den Göttern, daß es unfähige Polizisten gab. Was für ein Glück für Sano, daß dieser dōshin bei der Suche nach Flüchtigen genauso nachlässig war wie damals, als er Nachforschungen über die Feuersbrunst angestellt hatte.
    Sano löste die Finger vom Dachrand und ließ sich fallen. Er minderte die Härte

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