Der Kirschbluetenmord
trügerisch schlicht aussehendes Gebäude mit Ziegeldach und Wänden aus Fachwerk, das auf einem podiumartigen Fundament aus Granit stand. Sano wußte, daß solche Herrenhäuser in Wahrheit ein verschachtelter Komplex aus mehreren Gebäuden waren, durch lange Flure oder sich überschneidende Dächer miteinander verbunden. Diese Villen beherbergten Hunderte von Menschen. Das Gefühl der Minderwertigkeit, vermischt mit Ehrfurcht, schwächte Sanos anfängliche Entschlossenheit. Bist du ein Narr, fragte er sich, daß du es wagst, einer so reichen und mächtigen Familie mit solchen Fragen gegenüberzutreten?
Direkt vor dem Haus befand sich eine offene Hütte, in der mehrere Sänften standen, welche mit kunstvoll geschnitzten Lackarbeiten verziert waren. Sano folgte dem Wächter unter dem Vordach hinweg in die große Empfangshalle. Dort zog er seine Sandalen aus und streifte Pantoffeln über, die für Besucher bereitstanden. Er legte seine Schwerter auf ein Regal, auf dem bereits eine große Zahl von Bogen, Speeren und Schwertern lagen; die Etikette verlangte, daß ein Samurai ein fremdes Heim stets unbewaffnet betrat. Dann folgte Sano dem Wachtposten in den Wohnbereich des Hauses.
Der Posten schritt schnell aus, so daß Sano nur einen flüchtigen Blick in die riesige, leere Empfangshalle mit den Wandgemälden, die grüne Inseln in einem wogenden blauen Meer zeigten, der kassettierten Decke und dem großen Podium werfen konnte, an dessen entferntem Ende bei feierlichen Zeremonien der Daimyō saß. Ein Hausmädchen öffnete die Fenster, um frische Luft in die Halle zu lassen; durch eines dieser Fenster konnte Sano die Freiluftbühne sehen, auf der im Sommer traditionelle Nō-Dramen aufgeführt wurden. Alles war geschmackvoll und luxuriös eingerichtet, ohne protzig zu wirken. Die strengen Luxusgesetze der Tokugawas erlaubten keine verschwenderische Ausstattung eines Heimes, und kein Daimyō würde es wagen, die Beschlagnahme seines Eigentums zu riskieren.
Ein Flur führte zu einem weiteren Empfangszimmer, aus dem das leise Murmeln von Stimmen drang. Nachdem Sano und sein Führer das Zimmer betreten hatten, kniete der Wächter nieder und verbeugte sich.
»Yoriki Sano Ichirō von der Dienststelle des Magistraten Ogyū«, verkündete er, erhob sich und stellte sich neben die Tür.
Auch Sano kniete nieder und verbeugte sich. Als er den Kopf hob, wurde sein Blick sofort von der Frau gefangen, die auf einer Estrade kniete und das Zimmer sowie sämtliche Anwesenden durch die bloße Kraft ihrer Persönlichkeit beherrschte.
Vor dem Hintergrund eines Gemäldes, das dunstige graue Berge zeigte, bildete Fürstin Niu in ihrem grünblauen Kimono, der mit farbigen Landschaftsbildern bedruckt war, einen wunderschönen Kontrast. Ihr Körper war stämmig wie der eines Mannes, ihre Haltung kerzengerade, und ihr weißer Hals, der aus dem tief ausgeschnittenen Kimono ragte, war wie eine starke, dicke Säule. Doch ihr Kopf war von beeindruckender klassischer Schönheit. Ihr Gesicht war ein längliches Oval mit straffer, jugendlicher Haut, gerader Nase, langen, schmalen Augen und einem sorgsam geschminkten kleinen Mund, der in scharlachroter Farbe leuchtete. Ihr schwarzes Haar war aus der Stirn nach hinten gekämmt und zu einem kunstvollen Knoten im Nacken geflochten; es war mit Spangen aus Lack festgesteckt und wies nicht eine graue Strähne auf. Ihre aufrechte Haltung und die Aura der Selbstsicherheit unterstrichen die frauliche Reife Fürstin Nius. Eine seidene, mit aufgestickten blauen und schwarzen Brillanten gemusterte Decke lag auf ihrem Schoß und war bis über ein Kohlebecken ausgebreitet, von dem nur die quadratischen Umrisse zu sehen waren. Ihre gefalteten Hände waren so klein und zart, daß sie die Aura der Macht, die diese Frau ausstrahlte, Lügen straften. Fürstin Niu war eine faszinierende Persönlichkeit voller Gegensätze: eine Frau, die Schönheit mit Strenge vereinte, Weiblichkeit mit Energie und Kraft; eine Frau, die sich nicht durch Konventionen von der Außenwelt aussperren ließ, wie es für Damen von Adel üblich war. Sofort verspürte Sano den Wunsch, mehr über diese Frau zu erfahren.
Noch einmal verbeugte er sich und sagte die Worte, die dem vorgeblichen Zweck seines Besuchs angemessen waren: »Ich möchte Euch diese bescheidene Gabe als Zeichen meiner Achtung überreichen.« Mit beiden Händen streckte er die Schachtel mit dem Gebäck vor. Die Gebräuche erlaubten es Sano nicht, während eines Beileidsbesuchs
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