Der Kirschbluetenmord
neuen Lehnsgebieten in der Provinz bedacht worden waren. Schon das kunstvolle Tor mit den roten Balken, den zwei Wachthäusern, den schweren Doppeltüren und dem gewaltigen Ziegeldach kündete von der Vormachtstellung dieser Sippe gegenüber den niederrangigen Daimyō, deren Tore vor den yashiki schmuckloser waren.
Ein paar Schritte vor dem Tor des Niu -yashiki blieb Sano stehen. Er hätte nie damit gerechnet, einem Daimyō einen Besuch abzustatten, aus welchem Grund auch immer. Nun fragte er sich, ob er die Kühnheit und das Geschick besaß, den Nius Einzelheiten aus Yukikos Leben zu entlocken, während er vorgab, ihnen einen offiziellen Beileidsbesuch abzustatten. Nur sein wachsendes Verlangen, die Wahrheit aufzudecken und Yukikos Mörder zu finden, verlieh ihm den Mut, sich den Wachthäusern zu nähern.
Er gab sich den Posten zu erkennen und erklärte: »Ich möchte der Familie Niu persönlich mein Beileid aussprechen.« Dann, um als Grund für seinen Besuch keine vollständige Lüge zu nennen, fügte er hinzu: »Und einige Dinge regeln, die Fräulein Yukikos Tod betreffen.«
»Wartet bitte einen Augenblick«, sagte der Posten. Anders als die Wächter im Gefängnis von Edo, zeigte der Mann sich weder erstaunt noch unterwürfig. Zweifellos empfing er als Bediensteter eines mächtigen Fürsten viele Besucher, die im Rang weit höher standen als ein yoriki. Der Posten kam aus der Tür und ging zu dem zweiten Wachthaus hinüber, wo er sich mit dem anderen Bewaffneten besprach. Dann öffnete er das Tor, sagte irgend etwas zu jemandem, der sich dahinter befand, schloß die Türflügel wieder und wandte sich erneut an Sano. »Bitte, geduldet Euch noch einen Augenblick«, wiederholte der Mann.
Sano wartete. Die klamme, kalte Luft drang in seine Kleidung, und er schritt vor den Wachthäusern auf und ab, um sich warm zu halten. Als er schon damit rechnete, gar nicht erst Zutritt zum yashiki zu bekommen, schwangen die Torflügel wieder auf.
Ein weiterer Wachtposten stand vor Sano. Er verbeugte sich und sagte: »Fürst Niu hält sich zur Zeit nicht in der Stadt auf, Herr. Doch falls Ihr die Güte habt, mir zu folgen, wird Fürstin Niu Euch empfangen.«
Es überraschte Sano nicht, daß Niu Masamune außerhalb der Stadt weilte, während die Fürstin sich daheim in Edo aufhielt: Es entsprach dem Gesetz des »wechselnden Aufenthaltsortes« oder »turnusmäßigen Besuchs«. Die Daimyō mußten jedes Jahr vier Monate in der Stadt und acht Monate auf ihren Ländereien in der Provinz verbringen. Wenn sie zu ihren fernen Lehnsgebieten reisten, hielt der Shōgun ihre Ehefrauen und Familien in Edo als Geiseln. Die Daimyō waren zudem in Gruppen aufgeteilt, so daß die einen sich in Edo, die anderen sich auf ihren Ländereien aufhielten. Alle diese Einschränkungen waren zwar eine tiefe Demütigung für die stolzen Feudalherren, hielten sie aber wirkungsvoll davon ab, sich gegen den Shōgun zu verschwören und einen Aufstand anzuzetteln. Außerdem waren die Daimyō auf diese Weise gezwungen, zwei Wohnsitze zu unterhalten, wodurch sie einen Großteil ihres Vermögens für nichtmilitärische Ausgaben verwenden mußten. Der Frieden kostete einen hohen Preis, den die Daimyō mit ihrem Geld, ihrem Stolz und ihrer Freiheit bezahlen mußten.
Dennoch hatte Sano nicht damit gerechnet, von Fürstin Niu empfangen zu werden. Die meisten adeligen Damen verbrachten ihre Zeit in den Frauengemächern der Villen, während die Bediensteten der Daimyō sich um die alltäglichen Belange kümmerten. Nur selten empfingen die Fürstinnen männliche Fremde. Voller gespannter Neugier – und zunehmend unsicher, wie er sich verhalten sollte – folgte Sano dem Wächter durch das Tor.
Schon auf den ersten Blick erkannte er, das dieses yashiki wie ein Militärlager angelegt war, in dem die Zelte der Soldaten um das des Generals herum aufgestellt waren. Hier, im Innern des yashiki, umgrenzte der äußere Ring der Kasernengebäude einen ausgedehnten Hof, auf dem Gruppen von Samurai patrouillierten und das Zentrum des Anwesens schützten, wo sich das Herrenhaus der Nius befand. Andere Samurai putzten in den Wachthäusern ihre Waffen oder saßen untätig herum. Weitere Kasernen – größere, luxuriösere Unterkünfte, für die höheren Offiziere gedacht – bildeten einen inneren Schutzwall. Über einen gepflasterten Gehweg gelangten Sano und sein Führer in einen kunstvoll angelegten Garten, hinter dem sich die Villa des Daimyō befand, ein großes,
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