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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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bewohnt, ja, als hätte sie niemals existiert.
    Ein Schluchzen stieg in Midoris Kehle auf. Die unpersönliche Leere des Zimmers machte ihr wieder einmal schmerzlich bewußt, daß Yukiko nicht mehr lebte. Selbst der Anblick von Yukikos Körper, der friedlich in der Familienkapelle lag – in ein Leichentuch gehüllt und von duftenden Weihrauchbrennern und betenden Priestern umgeben –, hatte Midori mehr geschmerzt als getröstet. Tränen liefen ihr über die Wangen, als ihr bei diesem Gedanken deutlich wurde, daß der Tod ihrer Schwester kein Alptraum war, aus dem man erwachte.
    Sie ließ ihre Sandalen fallen und wischte mit dem Ärmel die Tränen fort. Noch durfte sie nicht um Yukiko trauern. Zuerst mußte etwas erledigt werden – etwas, das Midori schon vor Monaten hätte tun müssen. Und jetzt, da ihre ältere Schwester tot war, erschien es Midori wichtiger als je zuvor. Sie eilte zu den Schränken und riß die Türen auf. In hektischer Eile – weil sie ihre Suche beendet und aus dem Zimmer geflüchtet sein mußte, bevor jemand sie finden konnte – durchwühlte sie die Kleidungsstücke, die sorgfältig gefaltet in den Regalen lagen.
    Beinahe hätte Midori der Mut verlassen. Als sie Yukikos Kimono berührte, konnte sie die Anwesenheit der Schwester spüren, konnte den frischen, blumigen Duft ihres Badeöls riechen. Wieder brannten Midoris Augen, und eine einsame Träne fiel auf den Kimono. Doch sie zwang sich, weiterzumachen. Sie öffnete eine große Truhe, die unter den Regalen auf dem Schrankboden stand. Und dort, unter einem Stapel Sommer-Kimonos, fand Midori, was sie gesucht hatte: mehrere Kladden, in schwarze Seide gebunden, jede ein dickes Bündel aus cremefarbenem, weichem Papier.
    Yukikos Tagebücher.
    Midori nahm die oberste Kladde vom Stapel und ging damit zum Fenster, wo die Lichtverhältnisse am besten waren. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie das Buch aufschlug. Jetzt würde sie endlich erfahren, weshalb Yukiko gestorben war – so hoffte sie jedenfalls. Denn ungeachtet ihrer Aussagen dem hübschen jungen Polizeibeamten gegenüber war Midori nicht sicher, ob Yukiko nicht doch Selbstmord begangen hatte. In der letzten Zeit vor ihrem Tod war die stets so heitere, ausgeglichene Yukiko bedrückt und in sich gekehrt gewesen. Midori wußte nicht, aus welchem Grund. Sie wußte jedoch, daß Yukiko ihre Gedanken, ihre täglichen Erlebnisse und Eindrücke stets ihrem Tagebuch anvertraut hatte. Nun würde dieses Tagebuch Midori berichten, ob Yukiko tatsächlich einen Liebhaber gehabt hatte, ob sie aus irgendeinem Grund so verzweifelt gewesen war, daß sie sich das Leben genommen hatte – oder ob etwas anderes die Ursache für ihren Tod gewesen war.
    Ungeduldig befeuchtete Midori ihren Zeigefinger, schlug die Seiten um und suchte nach der letzten Eintragung. Doch als sie erst die Hälfte des Tagebuchs durchgeblättert hatte, fiel ihr ein bestimmter Abschnitt ins Auge. Die Zungenspitze zwischen die Vorderzähne geschoben, begann Midori zu lesen.
     
    Gestern waren wir im Garten von Fürst Kurodas Villa in Ueno auf Glühwürmchenjagd. In unseren dünnen, zarten Sommer-Kimonos sind wir wie Geister über die dunklen Felder gehuscht und haben die geheimnisvollen glimmenden Lichter verfolgt, die von den winzigen Lebewesen ausgestrahlt werden. Die süßen Düfte von Erde und frisch gemähtem Gras stiegen vom Boden auf, und die Grillen haben eine ständige Begleitmusik zum Lachen und Rufen der Kinder gesungen. Wir haben die Glühwürmchen in kleine Weidenkörbe gesperrt, in denen sie weiter leuchteten und in sanftem Licht flackerten – lebende Laternen!
     
    Trotz ihrer Trauer lächelte Midori. Yukikos Worte ließen die Freuden dieses Abends wieder lebendig werden. Solange Midori las, hatte sie das Gefühl, ihre Schwester wäre noch immer bei ihr.
     
    Auf dem Weg zurück zum Haus sind Midori und Keiko im Überschwang der Freude losgerannt, haben gekichert und sich gegenseitig geschubst, so daß sie die Glühwürmchenkäfige der Kurodas fallen ließen und daraufgetreten sind. Soviel Mitleid ich auch verspürte, als ich ihre jammervollen Gesichter sah – ich habe sie dennoch angewiesen, ihre Missetat zu gestehen und sich bei der Fürstin Kuroda zu entschuldigen. Aber ich glaube, die beiden haben eingesehen, daß ich recht hatte; denn sie waren mir hinterher nicht böse.
     
    Niemand konnte böse auf dich sein, Yukiko, dachte Midori, als die Trauer sie wieder überkam. Als älteste Schwester hatte Yukiko

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