Der Kirschbluetenmord
Midori und die sieben anderen Mädchen stets beaufsichtigt und, falls nötig, zurechtgewiesen, jedoch mit soviel Liebe und Sanftmut, daß die jüngeren ihr gern gehorcht hatten, und sei es nur, um auf diese Weise Yukikos Liebe zu erwidern …
Leise Schritte erklangen auf dem Flur; Füße, die in Strümpfen steckten, ließen den dünnen Holzfußboden knarren. Midori hob ruckartig den Kopf. Schuldbewußt schlug sie das Tagebuch zu und schaute sich nach einem Versteck um. In diesem Zimmer durfte sie nicht erwischt werden! Ihre Stiefmutter würde sie schwer bestrafen. Dann aber wurden die Schritte leiser. Midori schlug das Tagebuch an anderer Stelle wieder auf, weiter am Schluß. Erneut begann sie zu lesen. Diesmal widerstand sie der Versuchung, glückliche Zeiten wiederaufleben zu lassen; statt dessen suchte sie nach Hinweisen auf den Tod Yukikos.
Der nächste Tagebucheintrag, den Midori las, erwies sich als Enttäuschung. Es war die Schilderung eines Ereignisses, welches vor sechs Jahren stattgefunden hatte und nichts mit Yukikos Tod zu tun haben konnte. Diesmal war Yukikos Sprache trockener; die Sätze waren abgehackt, als hätte sie den Absatz widerwillig geschrieben, ohne die gewohnte Freude am Formulieren.
Der siebente Tag des elften Monats. Ein dunkler Tag. Regnerisch. An einem Tag wie diesem wurde das Mannbarkeitsfest meines Bruders Masahito gefeiert. In der Hauptempfangshalle. Unser Vater gab Masahito seinen neuen Erwachsenennamen und den neuen Hut. Anschließend fand die fundoshi-iwai- Zeremonie statt. Die ganze Familie war dabei. Auch Gäste in schönen Gewändern. Vaters Gefolgsleute standen in Reihen im hinteren Teil der Empfangshalle. Laternen brannten. Ich war stolz und glücklich, als ich miterlebte, wie Masahito seinen neuen Lendenschurz erhielt. Sein erstes Kleidungsstück als erwachsener Mann. Jetzt denke ich an diesen Tag zurück und muß weinen. Könnte ich doch dieselbe Freude, denselben Stolz für den Mann von einundzwanzig Jahren empfinden, wie ich sie für den fünfzehnjährigen Jungen empfunden habe!
Midori fragte sich verwundert, was diese Zeilen bedeuten mochten. Für eine Halbschwester und deren Halbbruder hatten Yukiko und Masahito sich sehr nahe gestanden. Allerdings hatte Midori in letzter Zeit spüren können, daß eine gewisse Kälte zwischen den beiden geherrscht hatte. Sie blätterte die Seite um und hoffte, dort etwas über den Grund für diese Entfremdung zu erfahren. Doch Yukiko hatte den Absatz nicht weitergeführt. Statt dessen entdeckte Midori eine Einkaufsliste: Nähgarn, Haar nadeln, Gesichtspuder …
Midori gemahnte sich, daß sie keine Zeit verlieren durfte. Hastig blätterte sie die verbliebenen Seiten durch und suchte nach Noriyoshis Name. Beinahe hätte sie triumphierend aufgelacht, als sie ihn nirgends entdecken konnte. Es war genau so, wie sie es erwartet hatte: Yukiko hatte den Mann gar nicht gekannt! Den nagenden Verdacht, daß Yukiko ihren Liebhaber vielleicht deshalb nicht erwähnte, weil sie befürchtet hatte, irgend jemand könne ihre Tagebücher lesen, verdrängte Midori. Statt dessen wandte sie sich dem letzten Eintrag zu, den Yukiko am Tag vor ihrem Tod geschrieben hatte.
Die Zeit der Entscheidung ist gekommen. Aber ich weiß nicht, was zu tun ist. Zu handeln würde Leben vernichten. Doch nichts zu tun – das wäre unendlich viel schlimmer! Reden ist Verrat. Schweigen ist Sünde.
Midori kaute auf den Nägeln und las den Absatz noch einmal. Sie fuhr mit dem Finger die Schriftzeichen entlang, die unregelmäßig waren, offenbar mit zitternder Hand geschrieben – ganz anders als die schöne, gleichmäßige Schrift der früheren Einträge. Yukikos innerer Aufruhr hatte sich offenbar in ihrer Handschrift widergespiegelt. Vernichten … Verrat … Sünde. Diese drastischen Begriffe gaben Midori die Gewißheit, daß hier irgendwo der Beweis zu finden war, daß Yukiko ermordet wurde, weil sie irgend etwas gewußt hatte. Aber was? Welche »Entscheidung« hatte Yukiko am letzten Tag ihres Lebens so schreckliche Qualen bereitet? Midori blätterte zur vorhergehenden Seite zurück und las mit wachsender Bestürzung und Faszination, was dort geschrieben stand. Sie war dermaßen gefesselt, daß sie nicht bemerkte, wie die Tür aufgeschoben wurde, bis sie mit einem lauten Klicken einrastete.
Midori schrie auf und ließ das Tagebuch fallen. Sie fuhr herum. Ihr anfänglicher Schreck verwandelte sich in Entsetzen, als sie die Gestalt ihrer Stiefmutter im
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