Der Kirschbluetenmord
sich einer Fürstentochter gegenüber unangemessen benommen zu haben, schwer bestraft worden waren: Degradierung, Verbannung, Verstümmelung. Er warf einen raschen Blick auf die beiden Wachen. Tief in ihr Gespräch versunken, schlenderten sie den Gehweg hinunter, den Rücken Sano zugewandt. Das Verlangen, den Mörder zu fassen, gab den Ausschlag. Ohnehin konnte niemand seinem vorherbestimmten Schicksal entrinnen. Er ging das Wagnis ein und folgte der Aufforderung des Mädchens.
Sano huschte durch den Türeingang und gelangte in einen langen und engen Durchgang, der zwischen einem Zaun aus Bambus und den Wänden eines anderen Flügels der weitläufigen, verschachtelten Villa verlief. Als er den Durchgang hinuntereilte, sah er keine Spur von dem Mädchen. Doch er hörte Stimmen im Innern des Hauses. Sano schritt schneller aus, blickte gehetzt über die Schulter und rechnete jeden Augenblick damit, von irgend jemandem angerufen zu werden.
Der Durchgang führte in einem Bogen nach links und endete abrupt vor einem offenen Tor. Vorsichtig spähte Sano nach links und rechts. Niemand zu sehen. Auf den Zehenspitzen schlich er durchs Tor und gelangte in einen Garten. Die knorrigen Äste einer großen Kiefer verwehrten den Blick zum Himmel und ließen den trüben Wintertag noch düsterer erscheinen. Eine Brücke, die aus einem einzigen Steinblock gehauen war, führte über einen Teich, dessen Oberfläche mit Kiefernnadeln und toten Blättern übersät war. Am Ufer des Teichs standen mehrere Felsblöcke, die an den windzugewandten Seiten von Flechten- und Moosbewuchs braun gefärbt waren.
Das Mädchen trat so plötzlich hinter dem größten der Felsblöcke hervor, daß Sano einen leisen Aufschrei nicht zurückhalten konnte.
»Pssst!« Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und warf einen verstohlenen Blick auf die Veranda, die sich an einer Seite des Gartens befand.
Jetzt, da er dem Mädchen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, erkannte Sano, daß sie nicht älter als zwölf oder dreizehn war. Sie hatte Pausbacken, volle Lippen und ein rundes Kinn. Aus dunklen Augen musterte sie Sano ernst.
»Kann ich Euch vertrauen?« fragte das Mädchen.
Sano staunte über die unmädchenhafte Direktheit dieser Frage. Er antwortete, wie er es bei einem seiner Schüler getan hätte: »Ich kann Euch nicht sagen, wem man vertrauen darf und wem nicht, Fräulein … Midori?«
Sanos Aufrichtigkeit schien das Mädchen zufriedenzustellen. Und was ihren Namen betraf, hatte er richtig vermutet. Sie nickte; dann warf sie wieder einen raschen Blick zur Veranda und flüsterte: »Yukiko hat sich nicht selbst getötet!«
»Aber Eure Mutter ist sicher, daß sie Selbstmord begangen hat.« Sano mußte sich gegen eine Woge der Erregung stemmen, um klaren Kopf zu behalten. »Und Euer Bruder ebenfalls.« Und Magistrat Ogyū, dachte er, und alle anderen. Bis auf Doktor Itō und mich.
Midori stampfte mit dem Fuß auf; ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt. »Sie ist nicht meine Mutter!« rief sie. »Nennt sie nie wieder so …!« Das Mädchen verstummte abrupt, schlug die Hand vor den Mund und blickte ängstlich in die Runde. Dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: »Sie ist die Zweitfrau meines Vaters. Meine Mutter – Yukikos Mutter – war eine Konkubine des Fürsten. Sie ist tot. Und was andere Leute über Yukiko denken, interessiert mich nicht. Sie hätte niemals Selbstmord begangen. Erst recht nicht auf diese Weise, mit einem Mann. Sie kannte keine Männer. Jedenfalls keinen, mit dem sie …« Sie errötete und senkte den Kopf, so daß ihr seidiges Haar wie ein Schleier vor ihr Gesicht fiel.
Keinen Mann, mit dem sie geschlafen hat, führte Sano in Gedanken den Satz zu Ende, bei dem Midori aus Scham verstummt war.
»Woher wißt Ihr das?« fragte er. Schließlich war Midori noch ein junges Mädchen und besaß die instinktive Abwehrhaltung eines Kindes, das der geliebten älteren Schwester ein derart schlimmes Vergehen niemals zutrauen würde.
Offenbar hatte sich Sanos Mißtrauen in seine Stimme eingeschlichen, denn Midori hob ruckartig den Kopf; ihre Augen funkelten, und wutentbrannt zischte sie: »Ich weiß es! Ich kann es beweisen!« Sie zerrte so heftig am Ärmel ihres Kimonos, daß Sano glaubte, der Stoff würde zerreißen. »Jemand hat Yukiko getötet. Bitte, glaubt mir. Ihr müßt …«
»Midori! Was fällt dir ein?«
Beim Klang der schroffen Stimme fuhr Sano zusammen. Er wandte sich um und sah Fürstin Niu auf der Veranda
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