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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Türrahmen erkannte. Im Gegenlicht, das aus dem Flur ins Zimmer fiel, war Fürstin Nius Gesicht ein ovaler Schatten. Hinter ihr ragte die unverwechselbare, riesige Gestalt Eii -chans auf. Sein düsteres Schweigen, seine Häßlichkeit und Bedrohlichkeit hatten Midori immer schon Angst eingejagt. Sie warf einen gehetzten Blick durchs Zimmer, suchte verzweifelt nach einem Versteck. Der Wandschrank? Die Truhe? Aber es war längst zu spät. Fürstin Niu näherte sich bereits. Zitternd erwartete Midori den Wutausbruch ihrer Stiefmutter und die unvermeidlichen schallenden Ohrfeigen.
    Doch einige Schritte von dem Mädchen entfernt, blieb Fürstin Niu stehen. Ihr ernster Blick huschte über Midori hinweg, dann hinunter auf das Tagebuch, das am Boden lag, und schließlich über den zerwühlten Inhalt der Schränke.
    »Du hast dieses Zimmer gegen meinen ausdrücklichen Befehl betreten.« Wenngleich die Fürstin Midori nicht anschrie wie zuvor im Garten, klang ihre gedämpfte Stimme auf seltsame Weise noch furchteinflößender. »Du hast ohne meine Erlaubnis mit einem Polizeioffizier gesprochen und ihm zweifellos dumme Lügen über unsere Familie erzählt. Und nun hast du auch noch die Erinnerung an deine Schwester entehrt, indem du ihre persönlichen Gegenstände mißbraucht hast.«
    Midori zitterte noch heftiger. Ihre Lippen bewegten sich in stummem Flehen. »Bitte … nein …« Sie fühlte, daß sie weit Schlimmeres erwartete als eine Tracht Prügel. Sie wich zurück und spürte, wie ihr Ellbogen die Fensterscheibe aus Seidenpapier durchstieß.
    »Für dein Vergehen mußt du bestraft werden«, fuhr Fürstin Niu in unverändertem Tonfall fort. Sie verstummte, und ihre schönen Augen wurden schmal. Midori glaubte zu wissen, welche Bestrafungen ihre Stiefmutter nun aufzählen würde: keine Bücher, keine Gesellschaft, keine Spiele, tagelang Stubenarrest und schlechtes Essen. Midori hatte alle diese Strafen zuvor schon erdulden müssen. Schließlich nickte Fürstin Niu; offenbar hatte sie eine Entscheidung getroffen.
    »Geh auf dein Zimmer«, befahl sie dem Mädchen, »bis alle Vorbereitungen getroffen sind.« Und zu Eii -chan, der neben ihr stand, sagte sie: »Du sorgst dafür, daß Midori auf ihr Zimmer kommt – und dort bleibt.«
    In stummer Verzweiflung ging Midori dem riesigen Mann voraus zur Tür. Die Angst um sich selbst vertrieb alle Gedanken an die Tagebuchaufzeichnungen Yukikos. Plötzlich erklang das Geräusch zerreißenden Papiers. Midori blickte über die Schulter auf ihre Stiefmutter – und stieß einen schrillen Schrei aus.
    Fürstin Niu hatte Yukikos Tagebuch aufgehoben, zerriß die Seiten in kleine Fetzen und ließ sie ins Kohlebecken fallen.

5.
    A
    ls Sano in seine Schreibstube zurückkehrte, fand er dort einen ungewohnt bedrückten Tsunehiko vor. Mit einem gedämpften Murmeln erwiderte der junge Schreiber Sanos Begrüßung und schaute kaum von seinem Pult auf, als er eine Verbeugung andeutete.
    »Was ist geschehen, Tsunehiko?« fragte Sano.
    »Nichts«, antwortete der junge Mann, den Blick gesenkt, die Unterlippe trotzig vorgeschoben.
    Seufzend kniete Sano sich neben seinem Schreiber nieder. Irgend etwas machte Tsunehiko offensichtlich zu schaffen; als Lehrer hatte Sano genug Erfahrungen mit Jungen gesammelt, um die Zeichen zu erkennen. Schicksalergeben bereitete er sich darauf vor, sich Tsunehikos Klagen anzuhören und den Jungen zu trösten.
    »Komm schon, sag mir, was los ist.«
    Nervös befingerte Tsunehiko seine hellblaue Schärpe, die farblich mit dem blauen Wabenmuster seines Kimonos harmonierte, welcher weit geöffnet war und einen Teil der fleischigen Brust enthüllte, die sich bei jedem der schweren, schnaufenden Atemzüge hob und senkte. Sano glaubte bereits, der Dicke würde nicht mit der Sprache herausrücken, als er plötzlich murmelte: »Die anderen yoriki nehmen ihre Schreiber immer mit, wenn sie dienstlich unterwegs sind. Ihr habt das noch nie getan.«
    Jetzt, da seine Zunge sich endlich gelöst hatte, sprudelte es aus Tsunehiko hervor, bevor Sano irgend etwas erwidern konnte. »Gestern habt Ihr mir eine Unmenge von Anweisungen erteilt und Euch dann auf den Weg gemacht. Und heute war es schon wieder so. Mein Vater hat gesagt, daß ich hier bin, um einen Beruf zu erlernen! Aber wie soll ich etwas lernen, wenn Ihr mir nichts beibringt?«
    Er hob den Kopf und wandte Sano sein rosiges, feistes Gesicht zu. Seine Stirn hatte sich in so tiefe Kummerfalten gelegt, daß er schielte, und Zorn und

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