Der Kirschbluetenmord
flogen und die Tusche über den Fußboden spritzte.
Kurze Zeit später befanden sie sich auf einer langsamen, schaukelnden Fähre, die stromauf in Richtung Yoshiwara fuhr. Das offene Boot, das zehn Passagieren Platz bot, wäre im Sommer belegt gewesen. An diesem Wintertag aber waren Sano und Tsunehiko die einzigen Fahrgäste. In ihren dicken Umhängen und mit den breiten Strohhüten kauerten sie unter dem flatternden Baldachin, der kaum Schutz vor dem kalten, feuchten Wind bot, der über den Fluß wehte. Hinter ihnen sangen die beiden muskulösen Bootsleute im Rhythmus ihrer klatschenden Paddel ein Lied; hin und wieder unterbrachen sie ihren Gesang, um Männern auf vorüberfahrenden Fischerbooten und Lastkähnen Grüße zuzurufen. Das übelriechende braune Wasser, das um das Boot herum wogte und wirbelte, war so schmutzig und trüb, daß sich kein Schimmer des tiefhängenden grauen Himmels darauf spiegelte.
Tsunehiko öffnete sein Essenspaket, das er mitgenommen hatte, um sich für die zweistündige Bootsfahrt zu wappnen. »Eigentlich hätten wir auf weißen Pferden nach Yoshiwara reiten sollen«, sagte er. »Schließlich ist es so üblich. Wir hätten uns ja verkleiden können, damit uns niemand als Samurai erkennt.« Dann schlang er mit staunenswerter Geschwindigkeit die Reisbällchen, das eingelegte Gemüse und den gesalzenen Fisch hinunter.
Sano lächelte über Tsunehikos Unwissenheit. Zwar untersagten die Gesetze den Samurai einen Besuch Yoshiwaras, doch weil diesen Gesetzen nur selten Geltung verschafft wurde, strömten sie in hellen Scharen ins Vergnügungsviertel, und dies in aller Offenheit. Eine Verkleidung war gar nicht nötig, es sei denn, ein Samurai wollte sich den Spaß am Verbotenen durch eine Maskerade würzen.
»Wir sind in einer offiziellen Angelegenheit unterwegs, mein Junge«, sagte Sano.
»Offizielle Angelegenheit«, stimmte Tsunehiko kauend zu und grinste, wobei er einen Mundvoll halbzerkauter Nahrung zur Schau stellte.
Sano aß sein Mittagsmahl gemächlicher. Er hatte sich für die langsame Fahrt mit dem Boot entschieden, um die Möglichkeit zu nutzen, eingehend den Fluß zu betrachten, der beinahe die Leichen Yukikos und Noriyoshis verschlungen hätte. Nun ließ Sano den Blick über die Reihen der Lagerhäuser zu seiner Linken schweifen. Die Leichen konnten praktisch überall in den Fluß geworfen worden sein: von einem der Docks oder Anlegestellen oder Bootshäuser am Fuß der steinernen Uferbefestigung; von der Ryōgoku-Brücke, unter deren großem Bogen das Boot in diesem Augenblick hindurchschwamm; selbst in die Sümpfe am gegenüberliegenden Ufer. Falls Sano in Yoshiwara nichts in Erfahrung brachte, mußte er den ganzen Flußlauf entlang nach Zeugen suchen – eine Aufgabe, die Tage in Anspruch nehmen würde.
Schließlich legte die Fähre neben dem Pier an. Sano bezahlte die Bootsleute. Nachdem sie von Bord gegangen waren, dehnten Sano und Tsunehiko ihre verkrampften Muskeln, bevor sie die Stufen der steinernen Uferbefestigung hinaufstiegen. Oben angelangt, folgten sie der Straße ins Binnenland und kamen an den ersten Läden und Gasthäusern vorüber. Serviermädchen lächelten sie einladend aus Türeingängen an, die mit Vorhängen verdeckt waren. Sobald die Mädchen bemerkten, daß die beiden Reisenden kein Interesse zeigten, wurden ihre Gesichter mürrisch. Als Sano und sein Schreiber die Reisfelder und Sümpfe vor Asakusa durchquerten, konnten sie in der Ferne das Ziegeldach des Sensōji-Tempels sehen, das über die umliegenden Häuser und die Dächer der kleineren Tempel emporragte. Ein Gong ertönte; der Wind trug das Geräusch, zusammen mit dem schwachen Duft von Weihrauch, bis zu den beiden Reisenden. Einige Priester mit kahlgeschorenen Köpfen riefen sie vom Straßenrand aus an; die Hände mit den Bettelschalen ausgestreckt, baten sie um Gaben.
Nach einem kurzen Wegstück gelangten Sano und Tsunehiko bis dicht vor die irdene Mauer, von der das Vergnügungsviertel wie eine Festung umgeben war. An einem der überdachten, reichverzierten Tore standen zwei Samurai mit Helmen und Brustpanzern. Es waren die Posten der Tagwache; denn die Tore Yoshiwaras wurden rund um die Uhr bewacht, wie auch die Besucher.
Als Sano die Posten befragte, mußte er wieder einmal die Erfahrung machen, wie schwierig es war, inoffizielle Nachforschungen in einem Mordfall anzustellen.
»Ja, wir haben Noriyoshi gekannt«, sagte einer der Torwächter. Doch als Sano den Posten fragte, ob er
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