Der Kirschbluetenmord
Sano sich von dem Freund. Die neuen Lehrmethoden und Waffen hatten plötzlich eine ominöse Bedeutung bekommen. Weshalb hatte sein Vater diesen Änderungen schließlich doch zugestimmt? Als Sano den Übungsraum verließ, krampfte sein Magen sich vor Nervosität zusammen. Er führte sein Pferd um eine Gebäudeecke und eine schmale Seitengasse hinunter, an hohen Zäunen vorüber, welche die Hinterhöfe mehrerer Geschäfte vor neugierigen Blicken schützten. Auf diesen Höfen standen die Häuser der Ladenbesitzer, von kleinen Gärten umgeben. Durch Lücken im Zaun konnte Sano den gelben Schein der Lampen sehen, die in diesen Gärten brannten, und er hörte die vertrauten abendlichen Geräusche: das Schwatzen der Bewohner, das dumpfe Pochen von Holzeimern, die gegen Brunnenwandungen stießen, als sie in die Höhe gezogen wurden, und das Wiehern von Pferden in den Ställen hinter den Wohnhäusern. Ein leichter Wind trug die Gerüche von Miso-Suppe und Knoblauch an seine Nase. Doch an das Essen dachte Sano am allerwenigsten, als er schließlich das Tor vor dem Haus seiner Eltern aufstieß.
Er führte sein Pferd in den Stall, der sich im Garten befand. Als er sah, daß der zweite Stellplatz leer war, wuchs seine Besorgnis. Sein Vater hatte bereits seit mehreren Jahren seinen Tod vorhergesagt. Doch daß der alte Mann vor ein paar Monaten darauf verzichtet hatte, sich nach dem Tod seines Pferdes ein neues Tier zu kaufen, war ein viel beredteres Anzeichen dafür, daß sein Leben sich dem Ende zuneigte.
Sano ging ins Haus und ließ seine Sandalen und die Schwerter am Eingang zurück. In der großen Küche zu seiner Rechten kniete Hana, die alte Hausdienerin, vor dem Herd und rührte eine Suppe um. Daneben stand ein Topf mit kochendem Reis. Auf einem Holztisch neben dem steinernen Waschbecken lag Gemüse. Zwei ozen aus schwarzem Lack standen vor der Wand auf dem irdenen Fußboden; die Tabletts waren mit Schüsseln, Eßstäbchen und Tassen gedeckt. Sano erwiderte Hanas Lächeln und ihre Verbeugung mit einem Kopfnicken. Hana hatte schon für die Familie gearbeitet, als Sano noch nicht geboren war; normalerweise wäre er zu ihr gegangen und hätte mit ihr geplaudert, doch ein tiefes, abgehacktes Husten erklang aus dem Wohnraum und erregte seine Aufmerksamkeit. Sano schob die Tür auf.
Sein Vater lag unter einer großen Tagesdecke. Er krümmte sich vor Schmerz und hustete qualvoll in ein Tuch, das Sanos Mutter ihm vor den Mund hielt. Dann holte er tief und röchelnd Atem und begann erneut zu husten. Sanos Mutter redete beruhigend auf ihn ein. Mit der freien Hand zog sie das eine Ende der Decke über den Kohleherd, damit die warme Luft zum Körper ihres Mannes strömen konnte. Eine Öllampe stand auf dem Fußboden neben dem Lager des Kranken; sie warf die Schatten des Paares an die Wand des kleinen Zimmers und ließ die Falten, die der Schmerz in das ausgemergelte Gesicht des alten Mannes gegraben hatte, noch tiefer erscheinen.
»Chichive! « rief Sano erschüttert.
Schon seit langer Zeit war die Gesundheit seines Vaters angegriffen; eine merkliche Verschlechterung war jedoch nicht eingetreten. Nun aber erkannte Sano entsetzt, wie schrecklich sein Vater in nur einem Monat verfallen war.
Die Eltern wandten sich gleichzeitig dem Sohn zu, und der Hustenanfall des alten Mannes verebbte.
»Warum hast du mir nicht geschrieben, daß du krank bist, chichive?« , fragte Sano bestürzt und kniete sich neben dem Lager des Vaters nieder.
Erschöpft, mit geschlossenen Augen, schüttelte der alte Mann den Kopf. Seine knochige Hand kam unter der Decke hervor und tat Sanos Frage mit einem zittrigen Wink ab.
Anstelle ihres Mannes antwortete Sanos Mutter. »Er wollte nicht, daß du dir Sorgen machst, Ichirō«, sagte sie. »Außerdem geht es ihm heute schon viel besser. Bald ist er wieder gesund.« Ihre Stimme und ihr Lächeln waren zuversichtlich, doch ihr von Kummer gezeichnetes Gesicht sprach die Wahrheit. Sie blickte auf das Tuch in ihrer Hand. Als sie die Blutflecken sah, drückte sie es sich hastig an den Schoß, um es vor Sano zu verbergen.
»War schon ein Arzt bei ihm?« fragte Sano die Mutter und versuchte, sich seinen Zorn und sein Mitleid angesichts ihrer Selbsttäuschung nicht anmerken zu lassen. Seine Mutter hatte immer schon versucht, Probleme zu verleugnen; zum einen, weil sie hoffte, daß diese Probleme sich von selbst lösten, zum anderen, weil ihre Erziehung sie gelehrt hatte, der Welt stets eine Fassade der Zuversicht zu
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