Der Kirschbluetenmord
Tsunayoshi vor zwei Jahren sein »erstes Gesetz zum Schutz der Hunde« erlassen hatte. Der anfängliche Schock und die Verwirrung im ganzen Land waren inzwischen stummem Zorn darüber gewichen, daß die Regierung Unsummen für das Wohl der Hunde verschleuderte und härteste Strafen gegen Personen verhängte, die gegen das Hundeschutzgesetz verstießen.
»Heute nicht«, lehnte Sano das Angebot des Blinden ab. Dann, einer plötzlichen Regung folgend, fragte er: »Habt Ihr Noriyoshi gekannt?«
Doch bevor Heilende Hände antworten konnte, meldete Kirschenesser sich zu Wort. »Mein Freund muß schnellstens zu einem Patienten, yoriki« , sagte er. Dann wandte er sich an Heilende Hände. »Ich glaube, du solltest dich sputen.« Wieder scharrte er mit den Füßen, und seine fahrigen Handbewegungen zeigten Sano deutlich, wie sehr Kirschenesser darauf bedacht war, daß sein Freund verschwand.
Doch Heilende Hände beachtete den Wink des Kunsthändlers nicht und stützte sich bequem auf seinen Gehstock. »O ja, Herr«, sagte er. »Noriyoshi war ein netter Mann. Er hat mir viele Kunden geschickt. Er kannte jeden, wißt Ihr. Mächtige Herren, reiche Kaufleute.«
»Wer war seine Freundin?« fragte Sano gespannt. Dank der Geschwätzigkeit des Masseurs erfuhr er vielleicht doch noch etwas Interessantes.
»Oh, Ihr meint Wisterie? Sie arbeitet in einem Freudenhaus, dem Palast des Himmlischen Gartens, an der Nakano-chō. Sie …«
»Sei still, du Narr! Noch ein falsches Wort von dir, und ich lasse dich vom dōshin in den Kerker werfen!«
Nach Kirschenessers heftigem Ausbruch verfiel der Masseur in Schweigen. Er drehte sich in Sanos Richtung, machte eine entschuldigende Geste und sagte unsicher: »Ich muß jetzt gehen, Herr.« Damit wandte er sich um und schlurfte die Straße hinunter, wobei er auf seiner Flöte blies, um Kunden anzulocken.
Sano verabschiedete sich von Kirschenesser und eilte Heilende Hände hinterher. Als er zu dem alten Mann aufgeschlossen hatte, fragte er ihn nach Noriyoshis Feinden und ob er irgendwelche Gerüchte über den Tod des Künstlers gehört habe.
Doch Heilende Hände hatte sich Kirschenessers Warnung zu Herzen genommen. Er sagte nur: »Sprecht mit Wisterie.«
Sano blieb stehen und starrte auf den Rücken des alten Mannes, als dieser gemächlich davonschlenderte. Die Reise nach Yoshiwara war zwar enttäuschend verlaufen, doch ein völliger Reinfall war sie nicht gewesen. Sano hatte die Namen von Noriyoshis Bekannten und seiner Freundin erfahren; zudem wußte er nun, daß der Künstler tatsächlich Feinde gehabt hatte und auf irgendeine Weise an eine große Summe Geldes gekommen war. Eine dieser Fährten konnte zu Noriyoshis Mörder führen.
Sano und Tsunehiko müßten jedoch bis zum Anbruch der Dunkelheit in Yoshiwara bleiben; erst dann öffneten der Palast des Himmlischen Gartens und andere Vergnügungsbetriebe ihre Pforten. Aber sie konnten dann immer noch die letzte Fähre zurück nach Edo erwischen.
Doch plötzlich fiel Sano ein, daß er an diesem Abend seine Familie besuchen wollte – zum ersten Mal, seit er sein Zuhause verlassen hatte. Plötzlich lag die Last der Verpflichtung den Eltern gegenüber mit all ihrem erdrückenden Gewicht auf Sano. Es fiel ihm schwer, seine Nachforschungen gerade jetzt aufzuschieben, wo sie erfolgversprechend zu werden schienen. Außerdem behagte ihm der Gedanke nicht, seinen Eltern mit dem Wissen gegenüberzutreten, gegen die Befehle seines Vorgesetzten gehandelt und seine gesicherte Zukunft aufs Spiel gesetzt zu haben, die dem Vater und der Mutter so sehr am Herzen lag. Doch seine Eltern zu enttäuschen – besonders seinen Vater – würde bedeuten, gegen seine Pflichten als Sohn zu verstoßen.
Seufzend ging Sano die Straße hinunter, um Tsunehiko zu suchen und ihm zu sagen, daß es an der Zeit sei, in die Stadt zurückzukehren.
6.
E
s war fast Abendessenszeit, als Sano nach Nihonbashi gelangte. Am Rande dieses Stadtbezirks, in unmittelbarer Nähe des Palasts, wohnten seine Eltern in Gesellschaft anderer Samurai-Familien, die sich dem Handel zugewandt hatten und inmitten der Stadtbewohner lebten.
Sano ritt durch das Tor, hinter dem die Straße begann, die durch diesen Teil Nihonbashis führte. Er nickte den beiden Posten zu, die am Tor Wache hielten. Eine kurze Brücke führte Sano über den Kanal, dessen Ufer von Weiden gesäumt waren. Hinter der Brücke verlief die Straße durch ein Trümmergrundstück; hier hatte vor kurzem ein Feuer zwei Häuser
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