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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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verzeihen, wenn er nicht die Verpflichtungen einhielt, die sein Name ihm auferlegte:
    Ichirō. Erstgeborener Sohn.
    Und da Sano Einzelkind war, lasteten die Sohnespflichten allein auf seinen Schultern.

7.
    A
    chtzehnter Tag des zwölften Monats im Jahre eins der Genroku«, diktierte Sano. »Niederschrift über die polizeiliche Arbeit dieses Tages.« Er fuhr fort, die Berichte zusammenzufassen, die er von den dōshin erhalten hatte. »Gesamtzahl der Festnahmen: siebenundvierzig. Siebzehn wegen ungebührlichen Benehmens, zwölf wegen Diebstahls, acht wegen der Mißhandlung oder Tötung von Hunden, sechs wegen tätlichen Angriffs, drei wegen Ehebruchs und eine wegen Prostitution außerhalb des amtlichen Erlaubnisbereichs.
    Zwei Samurai wurden unter Hausarrest gestellt – der eine wegen ungebührlichen Benehmens, der andere wegen Körperverletzung. Die verhafteten gemeinen Bürger wurden ins Gefängnis von Edo gebracht. Den Ehebrecherinnen wurden die Köpfe geschoren und ihren Gatten die Scheidung gewährt.«
    Sano versah den Bericht mit seinem Siegel, nachdem Tsunehiko ihm das Schriftstück gereicht hatte. »Bring diesen Bericht in Magistrat Ogyūs Schreibstube. Dann kannst du nach Hause gehen. Das ist alles für heute.«
    Sano unterdrückte ein Gähnen und rieb sich die rotgeäderten Augen, die ihm vom Schlafmangel brannten. Am gestrigen Abend war er nicht in die Kasernen zurückgekehrt, sondern im Haus seiner Eltern geblieben. Die ganze Nacht hindurch hatte er abwechselnd wachgelegen und dem Husten seines Vaters gelauscht, der durchs ganze Haus hallte, und an der Schlafstelle des alten Mannes gesessen, ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch abgewischt und ihm Kräutertee eingeflößt, um die Schmerzen zu lindern.
    Tsunehiko war unschlüssig im Türeingang stehengeblieben. »Heute haben wir gar keine Nachforschungen angestellt, yoriki Sano -san «, sagte er. »Wie sieht es morgen damit aus?«
    »Ich fürchte, mit den Nachforschungen ist es vorbei, Tsunehiko.« Diesmal gähnte Sano herzhaft und legte die Hand vor den Mund. »Wir werden sie weder morgen weiterführen, noch sonstwann.«
    Auf Tsunehikos Gesicht spiegelte sich Sanos eigene Unzufriedenheit wider. »Warum denn nicht? Es hat soviel Spaß gemacht!«
    Sano hatte die ganze Nacht damit verbracht, sich davon zu überzeugen, daß es richtig sei, die Nachforschungen einzustellen. Jetzt hatte er keine Lust mehr, noch einmal darüber nachzudenken oder gar darüber zu reden; deshalb sagte er nur: »Weil die Pflicht und die Verantwortung uns andere Aufgaben auferlegen.« Er wußte, daß Tsunehiko, der ja ebenfalls in der Tradition der Samurai erzogen worden war, diese Erklärung akzeptieren würde, ohne Fragen zu stellen.
    Nachdem Tsunehiko gegangen war, räusperte Sano sich; dann überquerte er den Hof zu den Kasernen. Es war wärmer geworden; in der Luft lag der erste Hauch von Frühling, und die Spätnachmittagssonne schien golden von einem Himmel, der mit weißen Schäfchenwolken getupft war. In Yoshiwara hatten um diese Zeit die nächtelangen Feiern bereits begonnen. Die yūjo – die eleganten, teuren Huren – lockten nun hinter den Gitterfenstern ihrer Zimmer in den Freudenhäusern ihre Kunden an. Und Sano wußte, daß eine von ihnen, Wisterie aus dem Palast des Himmlischen Gartens, den Schlüssel zur Aufklärung der Morde an Noriyoshi und Yukiko in den Händen hielt …
    Entschlossen schob Sano diesen Gedanken von sich. Er beschloß, sofort zu Bett zu gehen, ohne zu Abend zu essen. Doch als er sein Zimmer betrat, blieb er zögernd vor dem Schrank stehen, in dem sich sein Bettzeug befand. So müde er auch war – er wußte, daß er keinen Schlaf finden würde, solange er sich über Wisterie den Kopf zerbrach. Langsam öffnete er den Schrank und nahm den Futon und die Decken heraus. Doch als er die Decken auf dem Boden ausbreiten wollte, hielt er inne. Er rief sich ins Gedächtnis, weshalb er auf eine neuerliche Reise nach Yoshiwara verzichten sollte: Seines Vaters wegen. Seiner Zukunft wegen. Der Pflicht, der Ehre zu genügen.
    Dennoch wurde Sanos Verlangen, die Wahrheit aufzudecken, stärker und stärker – bis er nicht mehr leugnen konnte, daß dieses Verlangen gerechtfertigt war. Von plötzlicher Entschlossenheit erfüllt, ließ er das Bettzeug zu Boden fallen und ging zum Schrank, in dem er seine Kleidung aufbewahrte. Er streifte einen langen grauen Umhang über und setzte sich einen breiten Strohhut auf, der sein Gesicht verdeckte. Dann suchte er sein

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