Der Kirschbluetenmord
vernichtet, die zu beiden Seiten der Straße gestanden hatten. Sano zügelte sein Pferd und betrachtete die niedergebrannten Gebäude. Sein Vater hatte in seinem letzten Brief von diesem Feuer berichtet, bei dem Angehörige aller vier Familien ums Leben gekommen waren, die in den Häusern gewohnt hatten; außerdem hatte der Brand ihre Läden vernichtet. Als Sano weiterritt, fragte er sich, was sich sonst noch verändert haben mochte, seit er von hier fortgegangen war. Er kam am Lebensmittelgeschäft, dem Schreibwarenladen und mehreren Futterhandlungen vorüber und zügelte sein Pferd an einer Straßenecke.
Vor ihm stand die Sano-Akademie für Waffenkunst.
Die eigentlichen Ausbildungsräume befanden sich im Innern des langen und niedrigen Holzgebäudes, das sich auf einer Ebene mit der Straße befand. Die schmuddeligen braunen Dachziegel wiesen die gleiche Farbe wie die Wände auf; vor den Fenstern waren rissige Bretter angebracht, und auf einem verblaßten Schild stand der Name der Akademie. Das Gebäude kam Sano älter und kleiner zugleich vor, seit er es das letzte Mal gesehen hatte – erst einen Monat zuvor. In der zunehmenden Abenddämmerung stieg er vom Pferd, band die Zügel am Geländer der niedrigen Veranda fest und betrat das Gebäude. Eine Woge wehmütiger Erinnerungen durchflutete sein Inneres.
Im Übungsraum wurde die winterliche Dunkelheit von Öllampen erhellt, die an den Wänden befestigt waren. Zwei Reihen junger Männer, in weiten Jacken und Hosen aus Baumwolle, standen einander in simuliertem Zweikampf gegenüber. Statt der echten stählernen Schwerter schwangen die Schüler in der einen Reihe Übungsschwerter aus Holz; ihre Gegner in der anderen Reihe parierten die Schläge mit Waffen der unterschiedlichsten Art – Stöcken, Lanzen, Ketten und eisernen Fächern. Ihre Schreie, das Dröhnen der Hiebe und die stampfenden Schritte hallten mit ohrenbetäubendem Lärm von den Wänden wider. Sano nahm die altbekannte Mischung verschiedener Gerüche in sich auf – Schweiß, Haaröl, feuchter Putz, altes Holz – und fühlte sich plötzlich getröstet und traurig zugleich. Er konnte sich an keine Zeit in seinem Leben erinnern, da dieses Gebäude nicht sein Zuhause gewesen war. Als Knabe hatte er unter der strengen Anleitung seines Vaters die verschiedenen Kampftechniken erlernt; Sano hatte mit den Übungen begonnen, kaum daß er groß genug gewesen war, ein Miniaturschwert für Kinder zu halten. Später, als junger Mann, unterrichtete er seine eigenen Schüler. Ursprünglich hatte er die Akademie eines Tages leiten sollen, wie es der Tradition entsprach; denn der älteste oder einzige Sohn übernahm das Familiengeschäft, nachdem der Vater in den Ruhestand getreten war.
Doch die Akademie hatte sich als finanzieller Fehlschlag erwiesen. Zum Teil lag es daran, daß viele Samurai sich nicht mehr die Mühe machten, ihre militärischen Fertigkeiten zu perfektionieren oder ihre Söhne in Kampftechniken ausbilden zu lassen. Der Hauptgrund aber lag in der Akademie selbst: Sie war keiner der großen Familiensippen angegliedert und erhielt deshalb keine festen Bezüge; Sanos Vater mußte die Behörden bezahlen, um seine Akademie betreiben zu dürfen. Und da es ihr an wohlhabenden Gönnern und einer prestigeträchtigen Lage fehlte – und da zudem die Lehrmethoden eines obskuren Schwertmeisters mit kleiner Gefolgschaft angewendet wurden –, sank die Zahl der Schüler von Jahr zu Jahr. Bald waren es zu wenige, als daß Sano und sein Vater eigene, getrennte Klassen hätten unterrichten können. Daraufhin hatte Sano als Privatlehrer gearbeitet, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und die Familie zu unterstützen, so gut es ging.
In diesem Jahr hatte Sanos Vater verkündet, daß er die Akademie nach seinem Tod an seinen Lehrling Aoki Koemon übergeben würde – jenen sensei, der am heutigen Abend die Klasse unterrichtete. Und kurze Zeit später hatte Sano senior mit seinem Sohn Katsuragawa Shundai aufgesucht und diesen um Fürsprache zwecks einer Anstellung Sanos im Regierungsdienst gebeten.
»Sano -san !« Koemon kam lächelnd zu ihm, verbeugte sich tief und sagte: »Guten Abend.«
Sano begrüßte den sensei. Sie waren zusammen aufgewachsen, doch nun, als Erwachsener, redete Koemon den Freund stets mit dem Respekt an, der Sano als Sohn eines Schwertmeisters gebührte. Als er Koemon nun entspannt und zuversichtlich in jener Welt erlebte, die er selbst hinter sich gelassen hatte, verspürte Sano einen Anflug
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