Der Kirschbluetenmord
zeigen. Sano konnte und wollte sie nicht zwingen, der bitteren Wahrheit ins Auge zu schauen und hinzunehmen, daß ihr Mann todkrank war; diese Aufgabe würden Zeit und Natur ihm abnehmen. Sanos Mitleid für die Mutter war beinahe stärker als sein eigener Schmerz.
»Kein Arzt«, keuchte der alte Mann. Wieder hustete er; dann fuhr er mit heiserer Stimme fort: »Es ist spät. Wir werden jetzt speisen. Omae, laß das Essen bringen. Unser Sohn soll keinen Hunger leiden.«
Gehorsam erhob sich Sanos Mutter und verließ das Zimmer.
Mit wehem Herzen stellte Sano eine weitere Veränderung an seinem Vater fest: Der alte Mann hatte früher nur ungern über die Symptome seiner Krankheit geredet – den Husten, die Schmerzen, das Fieber, die Atemnot. Dennoch war er bereitwillig zu verschiedenen Ärzten gegangen und hatte deren Mittel eingenommen; er hatte Wahrsager aufgesucht, um zu erfahren, wie lange er noch zu leben hatte; er war mit Sano sowohl bei buddhistischen als auch bei shintōistischen Priestern gewesen, um Gebete zu sprechen und die Götter zu bitten, ihm das Leben zu bewahren. Jetzt aber nahm er die Krankheit und deren unausweichliche Folgen mit gelassener Resignation hin. Sanos Augen brannten, und als er weinte, beugte er den Kopf über das angefeuchtete Tuch, das die Mutter ihm gereicht hatte, damit seine Eltern die Tränen nicht sahen. Sano konnte der Mutter nicht in die Augen blicken, als sie ihm tröstend die Hand streichelte.
Hana stellte ein ozen mit Speisen und Getränken vor Sano und seinen Vater zu Boden. Sie aßen schweigend und hielten sich wie stets streng an die Gewohnheit, beim Essen nicht zu reden. Da Sano jede Möglichkeit zur Ablenkung fehlte, beobachtete er seinen Vater; der alte Mann aß langsam und sehr wenig. Er nahm nur einige Löffel Miso-Suppe, ein kleines Stück eingelegten weißen Rettich und einen Bissen Fisch zu sich; zwischendurch trank er ein paar winzige Schlucke Tee. Sanos Mutter, die ihrem Sohn wie üblich eine viel zu große Portion hatte zukommen lassen, richtete derweil ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, ihrem Gatten immer wieder die Essensschale nachzufüllen. Doch es war ein vergeblicher Versuch, den alten Mann zu bewegen, mehr Nahrung zu sich zu nehmen. Als sie die Mahlzeit beendet hatten, beschloß Sano, noch einmal das Thema Arztbesuch anzuschneiden.
Doch nachdem Hana die ozen fortgeräumt und das Tablett mit dem Rauchzeug ins Zimmer gebracht hatte, ergriff Sanos Vater zuerst das Wort.
»Ich habe eine vielversprechende Braut für dich gefunden, Ichirō«, sagte er. »Ikeda Akiko. Sie ist neunzehn Jahre alt und bringt eine Mitgift von vierhundert ryō in die Ehe.«
Sanos Miene blieb ausdruckslos. Immer wieder hatte sein Vater ihm hartnäckig die Töchter wohlhabender Samurai als Ehefrauen vorgeschlagen; dies war der Hauptgrund dafür, daß Sano im fortgeschrittenen Alter von dreißig Jahren noch immer Junggeselle war. Er wollte seinem Vater nicht widersprechen, und es schnitt ihm ins Herz, dem alten Mann eine neuerliche Absage erteilen zu müssen – doch wie nicht anders zu erwarten, wies Sano den Vorschlag zurück.
»Die Ikedas stehen im Rang weit höher als wir, chichive« , sagte er. »Ich glaube nicht, daß sie mich als Schwiegersohn haben möchten.«
»Unsinn!« Der heftige Ausruf seines Vaters löste einen weiteren Hustenanfall aus. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, fuhr er fort: »Unser Mittelsmann wird Geschenke schicken und mit den Ikedas Kontakt aufnehmen, um den Termin für einen miai zu vereinbaren. Ich bin sicher, die Ikedas sind einverstanden. Besonders jetzt, da du yoriki bist.«
Yoriki oder nicht – Sano wußte, die Ikedas würden dem miai, einem förmlichen Treffen zwischen ihm, Akiko und den beiden Familien, niemals zustimmen. Vermutlich würden die Ikedas die Geschenke von Boten zurückbringen lassen.
»Ja, chichive« , sagte Sano; denn er befürchtete, daß sein Vater einen weiteren Hustenanfall erlitt, falls er dem Vorschlag nicht zustimmte. Und der zerbrechliche Körper des alten Mannes konnte gewiß keine allzu großen Belastungen mehr aushalten.
Zufrieden wechselte Sanos Vater das Thema. »Kommst du mit der Arbeit gut zurecht, mein Sohn?« fragte er und zündete seine Pfeife an dem kleinen, mit Glut gefüllten Metallkorb an, der auf dem Tablett stand. Er machte einen Zug, hustete, spuckte in ein Taschentuch und legte die Pfeife zur Seite.
Sano beschloß, dem Vater nichts von der Ermahnung zu sagen, die Magistrat Ogyū ihm erteilt
Weitere Kostenlose Bücher