Der Kirschbluetenmord
Sohn gezeichnet und verdorben habe, weil sie ihn mit einem verkrüppelten Bein zur Welt brachte, und daß seine Seele jetzt ebenso verdorben und verkrüppelt sei. Doch wie konnte sie es Masahito anders als durch Zuneigung wiedergutmachen, daß er als jüngster Sohn – und zudem als Kind der zweiten Frau eines Daimyō – durch Geburt von der Erbfolge ausgeschlossen war und daß er seiner Behinderung wegen nicht die Gunst seines Vaters besaß? Nicht einmal Fürstin Nius hoher Rang als Kusine eines Tokugawa und als Angehörige der Fujiwara-Familie, die in früheren Zeiten den kaiserlichen Hof beherrscht hatte, konnte Masahito zu dem Status verhelfen, den er verdiente. Sie mußte das Verlangen unterdrücken, ihn zu bemuttern, ihm warme Kleidung umzulegen. Es hätte nur weitere schroffe Bemerkungen ausgelöst.
Vorsichtig sagte sie: »Bitte, verzeih. Tut dir das Bein weh?«
Kaum war ihr diese Bemerkung über die Lippen gekommen, bedauerte sie ihre Worte. Natürlich tat ihm das Bein weh. Sie, die Masahito so gut kannte, hätte die Zeichen erkennen müssen, die für alle anderen unsichtbar waren: die gespannte Haut um seinen Mund und die kaum merklichen Schatten unter seinen Augen. Selbst die frostige Unbehaglichkeit des Zimmers hätte es ihr zeigen müssen. Die Fürstin mußte daran denken, wie Masahito als kleiner Junge einmal die Hand gefährlich nahe an eine Kerzenflamme gehalten hatte. Als sie ihm die Hand wegschlug und ihn zornig fragte, weshalb er etwas so Dummes tue, sagte er: »Weil ich dann nicht mehr an mein Bein denken muß.« Doch heute bedrückten andere Sorgen die Fürstin; deshalb hatte sie Masahito nicht mit der gewohnten Aufmerksamkeit betrachtet.
Masahito seufzte ungeduldig. »Es geht mir gut, Mutter«, sagte er, schlug aber vorsichtig die Beine auseinander und streckte sie aus, um sich auf die Moxe-Behandlung vorzubereiten. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert; aber die Fürstin wußte, daß ihm die Bewegung Schmerzen bereitete. Doch Masahito ließ sich Schmerz niemals anmerken; stets versuchte er zu gehen, ohne zu hinken, und nie benutzte er einen Gehstock, nicht einmal, wenn er allein war.
Er zog den Kimono bis zu den Leisten hoch. Sein linkes Bein war gerade und muskulös, die Haut glatt und fest. Das rechte Bein jedoch war dünn und schwächlich; der verkümmerte Oberschenkel war von verheilten Narben und entzündeten, wunden Stellen bedeckt.
Wie immer stieg beim Anblick des verkrüppelten Beines eine Woge von Zärtlichkeit, Mitleid und Trauer in Fürstin Niu auf. Am liebsten hätte sie ihren Sohn umarmt und an sich gedrückt, um seinen Schmerz durch mütterliche Liebe zu lindern. Doch Masahitos Reaktion auf Zuneigung war immer schon unvorhersehbar gewesen. In seiner Kindheit hatte er zärtliche Umarmungen der Mutter manchmal erwidert – um sie beim nächstenmal zu schlagen und zu treten. Schon damals hatte er es gehaßt, seine Schmerzen einzugestehen und getröstet zu werden. Jetzt, als erwachsener Mann, benutzte er seine scharfe Zunge, um seine Mutter zurückzuweisen, wenn sie ihm ihre Liebe und Sorge zu deutlich zeigte.
Deshalb schwieg Fürstin Niu, als sie nun niederkniete. Sie öffnete das Kästchen aus Lack und nahm elf Brennkegel aus Moxe heraus. Sie bestanden aus Beifußblättern, die man am fünften Tag des fünften Monats gesammelt, in einem Mörser zerstampft und zu kleinen, grauen Gebilden gerollt hatte, welche sich weich und schuppig anfühlten. Die Fürstin befeuchtete die Unterseite eines jeden Kegels mit der Zungenspitze und drückte sie Masahito dann auf den Oberschenkel, einen nach dem anderen, wobei sie sorgsam darauf achtete, keine der wunden Stellen zu berühren, die von den vorausgegangenen Behandlungen herrührten. Doch sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und strich sanft, wie unbeabsichtigt, mit den Fingerspitzen über seine Haut. Ihn zu berühren vermittelte ihr den süßesten, höchsten Genuß …
Sie zündete die Kerze an und benutzte einen der Holzspäne, um die Flamme an die Moxe-Kegel zu führen. Bald darauf stieg dünner Rauch von ihnen auf, und der leicht bittere Geruch der brennenden Blätter vermischte sich mit dem Myrtenduft der Kerze. Der ferne Gesang der Priester schwoll an, als sie Yukikos Sarg für die Überführung zum Tempel vorbereiteten; der Klang verlieh der Behandlung Masahitos eine geheimnisvolle Atmosphäre. Der junge Fürst sah aus wie ein lebender Buddha, seine Mutter wie eine Betende, die zu seinen Füßen ein Weihrauchopfer
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