Der Kirschbluetenmord
bekommen. Dann starrte er Sano an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
»Tut mir leid«, murmelte er mit verschwommener Stimme. »Haben wir uns unterhalten? Hattet Ihr mich gerade etwas gefragt?« Er starrte zu Boden. »Wo ist meine Schüssel?«
Langsam, zögernd, entspannte sich Sano. Er war erleichtert, daß Raikōs gefährlicher Anfall vorüber zu sein schien. »Wir haben uns über Noriyoshi unterhalten«, sagte er vorsichtig und hoffte, daß der Name keinen neuerlichen Zornesausbruch hervorrief. »Warum habt Ihr ihn gehaßt?«
Verwirrt runzelte Raikō die Stirn. »Habe ich ihn gehaßt? Oh, ja, ich glaube schon. Weil er schuld daran war, daß ich aus Fürst Toriis Ringermannschaft hinausgeworfen wurde. Der Waffenmeister hätte dem Fürsten bestimmt nicht erzählt, daß ich gegen die Disziplin verstoßen und ihn beinahe totgeschlagen hätte. Der Mann wollte schließlich nicht das Gesicht verlieren. Aber an dem Tag war Noriyoshi dort, um ein paar Bilder zu liefern. Er hat diese Geschichte beobachtet. Und dann sagte er mir, er würde Fürst Torii davon erzählen, wenn ich ihm nicht tausend sen pro Woche bezahle. Ich hatte das Geld nicht. Da hat Noriyoshi es dem Fürsten erzählt, und der Fürst warf mich hinaus. Schrecklich, findet Ihr nicht auch?«
Sanos Genugtuung war längst nicht so groß wie erwartet, als er nun Raikōs mögliches Mordmotiv erfahren hatte. Wie es schien, konnte der Ringer den Dämon in seinem Innern nicht unter Kontrolle halten. Er war zwar imstande, bei einem seiner plötzlichen Wutanfälle impulsiv einen Menschen zu töten – aber war er auch klug genug, einen Doppelmord zu planen, auszuführen und dafür zu sorgen, daß es wie Selbstmord aussah?
Sowohl Kikunojō als auch Raikō hatten bereitwillig zugegeben, Erpressungsopfer Noriyoshis gewesen zu sein. Doch Kikunojōs Verbindungen zu Niu Yukiko waren schwach, und gleiches galt, in noch höherem Maße, für Raikō. Samurai-Frauen aus vornehmen Familien besuchten niemals die öffentlichen Sumo-Kämpfe, die vor den Tempeln veranstaltet wurden, geschweige denn Straßen-Sumo, wie Raikō es veranstaltete. Und noch eins kam hinzu: Selbst wenn Yukiko die Toriis bei öffentlichen Veranstaltungen kennengelernt hatte – Raikō war vor fast zwei Jahren aus den Diensten Fürst Toriis entlassen worden! Welche Umstände hätten Noriyoshi und Yukiko miteinander in Verbindung bringen und sie zudem in der Mordnacht mit Raikō zusammenführen können?
Die Intuition sagte Sano, daß eine unmittelbare Verbindung zwischen Noriyoshi und dem Niu-Klan bestanden haben mußte und daß hier das Motiv für die Morde zu suchen war. Doch bis jetzt konnte er in dieser Richtung nichts erkennen.
»Habt Ihr schon einmal Kämpfe gegen Fürst Nius Ringer bestritten?« fragte Sano.
Der Wirt hatte Raikō ohne Aufforderung eine dritte Schüssel Nudeln gebracht; vielleicht, um einem weiteren gewaltsamen Zwischenspiel vorzubeugen. »O ja«, sagte Raikō, als er sich über die Nudeln hermachte. »Auf dem Turnier am Muen-ji. Vor drei Jahren.« Muen-ji, der Tempel der Hilflosigkeit, der auf der Begräbnisstätte errichtet worden war, auf der die Opfer des Großen Feuers ruhten, war ein beliebter Schauplatz für öffentliche Spektakel.
»Habt Ihr seine Töchter kennengelernt? Besonders die älteste, Yukiko?«
»Hä, hä, hä.« Raikō stieß Sano den Ellbogen in die Seite. »Ich weiß, was Ihr glaubt. Aber da irrt Ihr Euch. Leider. Die Daimyō ließen uns nicht mal in die Nähe ihrer Frauen. Sie haben uns Ringern nicht getraut. Eine Schande, denn einige von den Weibern …« Raikō ließ sich über den Liebreiz der Frauen aus, die er und seine Berufskollegen allerdings nur aus der Ferne bewundert hatten.
Sano glaubte, daß der Ringer die Wahrheit sagte. Raikō besaß weder die Intelligenz noch die schauspielerische Gabe Kikunojōs, als daß er Sano überzeugend hätte belügen können. Daß er ein lockeres Mundwerk besaß und zu dumm und sorglos war, um Gefahren zu erkennen, war offensichtlich. Der Ringer hatte sich ja nicht einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, wer Sano war und weshalb er diese Fragen stellte. Und Raikōs schlüpfrige Bemerkung über die Frauen der Daimyō würde ihm eine harte Strafe einbringen, wenn sie an die falschen Ohren kam.
Schließlich mußte Sano das weitschweifige Gerede des Ringers unterbrechen.
»Seid Ihr froh darüber, daß Noriyoshi tot ist?« fragte er.
Raikō nahm die Flasche und goß den letzten Schluck Reiswein in seine Schale.
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