Der Kirschbluetenmord
Sano bestimmt von ihm gehört; aber das war nicht der Fall. Außerdem zählte Fürst Torii zu den weniger bedeutenden Daimyō. Sein Vermögen war nur einen Bruchteil so groß wie das der Nius; ganz bestimmt konnte Fürst Torii sich keine eigene Sumo-Mannschaft der Spitzenklasse leisten. Und was den Shōgun betraf, galten seine Interessen den Künsten und den Lehren des Konfuzius, nicht den volkstümlichen Sportarten.
»Ein herrliches Leben, findet Ihr nicht auch?« sagte Raikō und kippte eine weitere Schale Reiswein hinunter. Eine gewisse Wehmut in Raikōs Stimme ließ Sano erkennen, daß der Ringer nicht nur prahlte, um Eindruck zu machen – vor allem wollte er seinem Selbstbewußtsein Auftrieb geben. Beinahe hatte Sano Mitleid mit dem Mann, selbst als er daran dachte, wie Raikō mit dem Kaufmann umgesprungen war.
Raikō leerte seine Essensschüssel und winkte dem Wirt, ihm eine weitere zu bringen. Seufzend griff Sano nach seinem Geldbeutel.
»Aber Fürst Torii hat mich entlassen«, fuhr Raikō fort, »weil ich mir den Waffenmeister gepackt und ihn gegen eine Wand geschleudert habe. Ungerecht, findet Ihr nicht auch? Schließlich hab’ ich dem Mann ja nur ein bißchen weh getan. Jedenfalls lebte er noch. Und überhaupt … eigentlich wollte ich’s gar nicht. Aber seit ich mich vor längerer Zeit bei einem Kampf am Kopf verletzt habe, sitzt ein Dämon in meinem Schädel und läßt mich die schrecklichsten Dinge tun.« Er rieb sich über die Schläfe und fügte traurig hinzu: »Deshalb bin zu meinem Namen gekommen: ›Blitz und Donner‹. Ich kann jederzeit und überall einschlagen – und wenn das geschieht, sollte jeder machen, daß er mir schleunigst aus dem Weg geht.«
Raikō – ein Mann, der es offenbar gewöhnt war, ein Gespräch zu beherrschen – zeigte an Sanos Person kein Interesse. Vom rhetorischen »Findet Ihr nicht auch?« abgesehen, stellte er keine einzige Frage. Sano aß schweigend und ließ Raikō weiter drauflos plappern. Falls er sich als yoriki zu erkennen gab, würde es nur den unbekümmerten Redefluß des Mannes unterbrechen, und manches, was der Ringer hervorsprudelte, waren interessante Dinge, die er preisgab, ohne daß man ihn dazu drängen mußte. Immerhin wußte Sano bereits, daß der Ringer knapp bei Kasse war und ein sprunghaftes, unberechenbares Temperament besaß. Und beides machte ihn zu einer leichten, aber gefährlichen Beute für einen Erpresser wie Noriyoshi.
Soeben ließ Raikō sich lang und breit über die Härten seines Lebens aus: schlechtes Essen; ein geldgieriger Vermieter; mangelnder Respekt seitens der Berufskollegen. Sano hielt es für an der Zeit, ins Gespräch einzugreifen und es in sachdienlichere Bahnen zu lenken.
»Habt Ihr von dem Künstler gehört, der shinjū begangen hat?« fragte er. »Ich glaube, er hieß Noriyoshi.«
Für einen Augenblick hörte Raikō auf, die Fuchsnudeln hinunterzuschlingen. Er bedachte Sano mit einem mißtrauischen Blick. »Kann sein«, erwiderte er beiläufig, saugte eine Nudel in den Mund und wischte sich mit dem Ärmel die Lippen ab. Doch das Zucken seines Körpers, als Noriyoshis Name gefallen war, hatte seine Lässigkeit Lügen gestraft.
»Habt Ihr ihn gekannt?« hakte Sano nach.
»Kann sein.« Raikōs Stimme blieb gelassen, doch als er sich wieder über die Nudeln hermachte, begann er plötzlich hektisch zu kauen.
»Habt Ihr ihn nicht gemocht?«
Raikō erwiderte nichts. Sano wartete. Er glaubte nicht, daß der geschwätzige Ringer lange schweigen würde. Und er hatte recht. Raikō schleuderte seine leere Essensschüssel durch die Tür und rief: »Ich hab’ den erbärmlichen Dreckskerl gehaßt!«
Sein Körper spannte sich, und er ballte die schlaffen Hände zu Fäusten. Sein Gesicht lief rot an – wie vorhin, als er über den Kaufmann hergefallen war.
Sano bemerkte, wie die anderen Gäste zu ihm und Raikō hinüberstarrten. Einige sprangen auf und verließen fluchtartig das Lokal. Sano legte verstohlen die Hand an den Schwertgriff und sagte in – wie er hoffte – besänftigendem Tonfall zu Raikō: »Beruhigt Euch, es ist alles in Ordnung.« Obwohl er den Ringer erst sehr kurze Zeit kannte, bemerkte er die Anzeichen des aufkeimenden Wutanfalls. Konnte er Raikō aufhalten, bevor der Koloß jemanden verletzte?
Zu Sanos Erleichterung entspannte der Körper des Ringers sich allmählich, und seine Miene wurde stumpf und ausdruckslos. Er blinzelte und schüttelte den massigen Schädel, so, als wollte er einen klaren Kopf
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