Der Kirschbluetenmord
spätestens war es ihm auf dem einsamen Straßenstück im Wald aufgefallen, als der Beobachter ihm so nahe war, daß er ihn hätte überrumpeln können.
Der Mann verließ seinen Spähposten nicht. Es bestand kein Grund zur Beunruhigung. Denn daran, wie Sanos Blicke wachsam und verunsichert über die Gesichter der Reisenden gehuscht waren, die ihm auf der Straße begegneten – und wie er jetzt den Waldrand absuchte –, konnte der Mann erkennen, daß Sano nicht wußte, wer ihn beobachtete und von welcher Stelle aus. Der Mann wußte, daß er ein hervorragender Spion war. Was das Tarnen und Verstecken betraf, besaß er große Erfahrung. Sein trister Hut und der Umhang hatten es ihm ermöglicht, unauffällig mit den anderen Reisenden zu verschmelzen – so, wie er jetzt mit der Landschaft verschmolz. Und er wußte, wie man nicht nur den Körper, sondern auch die Gedanken verbergen konnte, so daß es niemandem auffiel, geschweige denn Verdacht erregte. Die Leute – Sano eingeschlossen – blickten durch ihn hindurch, als gäbe es ihn gar nicht. Bis jetzt hatte der Beobachter noch nicht zuschlagen müssen – obwohl es ihm möglich gewesen wäre, als sie Edo hinter sich gelassen hatten und der Verkehr spärlicher geworden war. Und er machte sich keine Sorgen darüber, daß der yoriki anscheinend auf der Hut war. Im Gegenteil: Furcht und Unsicherheit würden so lange an Sano nagen, daß er zu einer hilflosen Beute geworden war, wenn der Beobachter schließlich zuschlug.
Doch eines störte den Beobachter. Nicht der Geruch von Wald und Wasser, den er zu seiner Tarnung brauchte und die ihn lebhaft an jene Nacht erinnerten, als er die Leichen in den Fluß geworfen hatte. Schon das helle Sonnenlicht sorgte dafür, jede Ähnlichkeit zwischen der finsteren Nacht damals und dem heutigen strahlenden Tag zu verwischen. Und die Zeit, die seit jener Nacht vergangen war, hatte die schlimmsten Ängste des Beobachters vertrieben. Seine Alpträume plagten ihn nicht mehr; er schreckte nicht mehr schweißgebadet aus dem Schlaf, mit klopfendem Herzen, nachdem ihn Träume über seine Verhaftung, Folterung und Hinrichtung gepeinigt hatten.
Nein – was ihn störte, war der junge Samurai, der Sano begleitete. Der Beobachter hatte damit gerechnet, daß Sano die Reise allein unternehmen würde, und er haßte Überraschungen. Dann aber sagte er sich, daß es auch seine Vorteile hatte, daß Sano von dem Jungen begleitet wurde. Der yoriki würde langsamer vorankommen. Zudem waren zwei Männer leichter zu verfolgen als einer. Der Beobachter konnte ein gutes Stück hinter ihnen bleiben, sie dennoch in Sichtweite behalten und an jeder Postenstation zu ihnen aufschließen. Außerdem würde der junge Bursche den yoriki ablenken und dafür sorgen, daß er weniger aufmerksam und vorsichtig war.
Die Fähre erreichte das gegenüberliegende Ufer. Sano und sein Begleiter stiegen aus dem Boot und brachten ihr Gepäck an Land. Die Pferde kletterten ans Ufer, schüttelten die Nässe ab. Gespannt wartete der Beobachter und verfolgte, wie seine Zielpersonen die Tiere abrieben, sie beluden, sich in die Sättel schwangen und hinter der bewaldeten Klippe am jenseitigen Ufer des Flusses verschwanden. Sein Eifer trieb den Beobachter, sofort die Verfolgung aufzunehmen, doch er kämpfte das Verlangen nieder. Hab Geduld, sagte er sich. Sie können dir nicht entkommen.
Er wartete noch ein paar Herzschläge lang. Dann pfiff er leise sein Pferd herbei. Die Stute hatte gehorsam ein Stück die Straße hinunter gewartet; jetzt kam sie zu dem Mann getrottet. Er schwang sich in den Sattel und ritt den Hang zum Fluß hinunter, wo die Fährleute und Schwimmer darauf warteten, Roß und Reiter ans andere Ufer zu bringen.
Der Beobachter hatte alle Zeit der Welt, auf den günstigsten Augenblick zu warten. Und die Nacht bot bessere Gelegenheiten als der Tag.
14.
D
er Sonnenuntergang hatte den Himmel im Westen in reines, von lavendelfarbenen Streifen durchsetztes Gold verwandelt, als Sano und Tsunehiko das Dorf Totsuka im Landesinneren erreichten. Wenngleich Totsuka der sechste Ort mit einer Kontrollstation an der Tōkaido war – der übliche Übernachtungsort für Reisende, die Edo am frühen Morgen verlassen hatten –, wäre es Sano lieber gewesen, sie hätten bereits eine größere Strecke zurückgelegt. Er wollte ihren noch immer unsichtbaren Verfolger abschütteln, falls es ihn tatsächlich gab. Doch die Nacht brach schnell herein und hüllte das Land in Dunkelheit und
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