Der Kirschbluetenmord
kein verdächtiges Interesse.
»Worauf warten wir noch, yoriki Sano -san?« Tsunehiko saß bereits auf seinem Klepper. »Stimmt irgendwas nicht?«
»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte Sano, der seinen Schreiber nicht beunruhigen wollte. Er stieg auf sein Pferd und warf einen letzten flüchtigen Blick in die Runde, während er zur Straße ritt, gefolgt von Tsunehiko. Die metsuke – Spione der Regierung – behielten das Kommen und Gehen auf der Tōkaido aufmerksam im Auge. Wahrscheinlich hatte einer dieser Spione sich unter die Menge gemischt, als Reisender verkleidet, und die Gelegenheit genutzt, Sano und seinen Begleiter genauer in Augenschein zu nehmen. Mehr nicht.
Doch Sanos Besorgnis wollte nicht weichen. Auf dem Weg zur nächsten Postenstation in Kawasaki ertappte er sich dabei, wie er immer öfter besorgte Blicke über die Schulter warf. Folgten ihnen die drei Samurai? Oder ein reisender Händler? Die Fernstraße wand sich jetzt durch ein Waldstück, und für einen Augenblick waren Sano und Tsunehiko allein. Wieder mußte der Schreiber absteigen, um Wasser zu lassen. Während Sano wartete, blickte er zu den Fichten hinauf, deren Wipfel sich über der Straße berührten und einen natürlichen Baldachin bildeten, durch den an manchen Stellen der blaue Himmel hindurchschimmerte. Eine ideale Stelle für Soldaten, um während eines Gefechts Deckung vor feindlichen Pfeilen und Kugeln zu suchen, ging es ihm durch den Kopf. Und eine ebenso ideale Stelle für Wegelagerer, um sich zu verbergen. Jedes Jahr wurden zahllose Reisende auf der Tōkaido ausgeraubt und ermordet.
Auf dem Straßenstück hinter Sano erklang Hufgetrappel. Über die Schulter blickte er zu der Kurve zurück, die ins Waldstück hineinführte, und wartete, daß die Reiter erschienen. Doch plötzlich verstummte der Hufschlag. Der Morgen war wieder still; nur das Zwitschern der Vögel und das Rascheln der Äste waren zu vernehmen. Die Stille, die durch den unsichtbaren Beobachter bedrohlich wirkte, ängstigte Sano. Seine Hand bewegte sich zum Schwert. Sollte er es wagen, »Wer ist da?« zu rufen oder zur Kurve zu reiten und einen Blick zu riskieren? Er hatte nicht das Verlangen, an einem so verlassenen Ort einem unbekannten Angreifer gegenüberzutreten.
»Beeil dich, Tsunehiko«, rief er statt dessen.
Sano war erleichtert, als sie aus dem Waldstück ritten und auf freies Gelände gelangten. Dann aber sah er zu seiner Enttäuschung ein Hindernis vor sich, das nicht so leicht und schnell zu überwinden war: den Flußlauf des Tama. Einige berufsmäßige Schwimmer durchquerten das glatte, funkelnde Wasser des Flusses und zogen dabei die Pferde Reisender an den Zügeln hinter sich her; andere Schwimmer warteten am felsigen Ufer auf Kunden. Fährleute halfen Fahrgästen in flache Holzboote. Sano fluchte auf die vielen wirkungsvollen Maßnahmen der Tokugawas, die Geschwindigkeit der Reisenden zu verringern. Um Truppenbewegungen auf der Tōkaido zu erschweren, hatten sie die meisten Brücken zerstören lassen.
In seiner Eile, weiterzukommen, feilschte Sano gar nicht erst mit den Fährleuten. Er bezahlte den hohen Preis, den sie für das Übersetzen verlangten, und half Tsunehiko, den Pferden die Satteltaschen abzuschnallen. Dann scheuchte er seinen Schreiber in eins der Boote, warf die Taschen hinein und sprang an Bord. Der Fährmann ruderte sie mit quälender Langsamkeit über den Fluß, während zwei Schwimmer die Pferde vorsichtig zwischen Felsen und Baumstämmen hindurchlenkten, die unter Wasser verborgen war.
Tsunehiko steckte die Hand ins Wasser und zog sie sofort wieder heraus. »Oh, ist das kalt!« stieß er hervor; dann rief er den Schwimmern zu: »Wie könnt ihr das aushalten?«
Die Schwimmer lachten. Ihre gebräunten Gesichter hüpften neben den Pferden im Wasser auf und nieder. »Wir sind harte Burschen!« rief einer von ihnen.
Sano hörte nur mit halbem Ohr zu. Er spähte zum Ufer hinüber, das allmählich hinter ihnen zurückblieb. Wenngleich er niemanden sehen konnte, der am Ufer oder zwischen den Bäumen lauerte, wollte das Gefühl einer drohenden Gefahr einfach nicht von ihm weichen.
Der Beobachter erhob sich in seinem Versteck hinter einem Gebüsch und schaute zum Fluß hinunter, als die Fähre Sano Ichirō zum gegenüber liegenden Ufer brachte. Immer wieder drehte der yoriki sich um und blickte zum Wald hinüber. Offensichtlich spürte er, daß er verfolgt wurde. Vielleicht hatte Sano es bereits an der Postenstation bemerkt;
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