Der Kirschbluetenmord
Kälte. Sano und Tsunehiko waren durchgefroren, müde und hungrig; auch die Pferde brauchten Ruhe, Wärme und Futter.
»Hier übernachten wir«, sagte Sano, nachdem sie die Paßkontrollstelle von Totsuka passiert hatten.
Tsunehiko, den Erschöpfung und Hunger bedrückt und schweigsam gemacht hatten, lächelte zum ersten Mal seit längerer Zeit. »Oh, ja, gern, yoriki Sano -san «, sagte er mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung.
Die strohgedeckten Herbergen und Schänken, Läden und Teehäuser von Totsuka standen nebeneinander am Straßenrand der Tōkaido – ein kleines Geschäftsviertel, das von den malerischen Häusern der Dorfbewohner umgeben war. Laternen brannten fröhlich, als wollten sie die vordringende Nacht verspotten. In den Türeingängen sämtlicher Gasthöfe, Schenken und Teehäuser standen hübsche »Kellnerinnen« – illegale Dorfprostituierte, die offiziell gar nicht existierten – und versuchten, Kunden herbeizulocken. Bereits eingetroffene Reisende trugen ihr Gepäck in die Herbergen oder saßen trinkend und plaudernd in den Teehäusern. Medizinverkäufer priesen ihre Salben und Tränke an. Eine Gruppe von Pilgern durchstöberte ein Geschäft für religiöse Artikel. Aus umzäunten Höfen, wo die Gäste der Schänken bereits mit ihren abendlichen Zechereien begonnen hatten, erklangen Musik und Gesänge.
Auf der Suche nach einer Herberge ritten Sano und Tsunehiko die Straße hinauf. Sie kamen an den prächtigen, tempelartigen Gebäuden vorbei, die den Daimyō und Adeligen vom Kaiserhof vorbehalten waren. Unweit der Dorfmitte entdeckten sie einen kleinen, bescheidenen Gasthof, dessen Eingangstür direkt auf die Straße führte. Auf zylinderförmigen, orangefarbenen Laternen stand der Name der Herberge: Ryokan Gorōbei. Schilder warben mit verdächtig niedrigen Preisen für Unterkunft und Verpflegung, doch das Ge bäude war in gutem Zustand und machte einen gepflegten Eindruck. Der Fußboden des Eingangszimmers war sauber gefegt; neben dem Eingang befand sich ein Schrein, der Jizō geweiht war, dem Schutzpatron der Kinder und Reisenden. Das kleine Idol stand auf einem Sockel, umgeben von Opfergaben: Reiskuchen, Schalen mit Reiswein und brennenden Öllampen.
»Das hier wird’s für heute nacht tun«, sagte Sano und schwang sich vom Pferd.
Bevor er das Gasthaus betrat, warf er einen letzten Blick über die Schulter. War es nur Einbildung, daß er sich von ihrem unsichtbaren Beobachter verfolgt fühlte? Sano sah die vertrauten Gesichter der Reisenden, denen sie auf der Straße begegnet waren, doch es war niemand darunter, den er mit der bösartigen Präsenz in Verbindung bringen konnte, die er noch immer zu spüren glaubte. Er versuchte, seine Besorgnis abzuschütteln und beruhigte sich mit dem Gedanken, daß er und Tsunehiko bald in der Sicherheit eines Zimmers sein würden.
»Willkommen im Ryokan Gorōbei! Willkommen!« Der lächelnde Besitzer des Gasthauses kam aus seiner Wohnung im hinteren Teil des Gebäudes geflitzt, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Er verbeugte sich und sagte: »Danke, Ihr Herren, daß Ihr Euch für mein bescheidenes Gasthaus entschieden habt. Ich bin Gorōbei, der Wirt, und ich werde alles tun, Euren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.«
Er legte ihnen ein Anmeldebuch vor, in das sie sich eintragen mußten; dann rief er nach dem Stallburschen, der hinauseilte, sich um die Pferde zu kümmern. Der Wirt nahm eine der Öllampen von Jizōs Schrein und führte Sano und Tsunehiko in den Abstellraum. Dort ließen sie den größten Teil ihres Gepäcks zurück und nahmen nur mit, was sie für die Nacht brauchten. Tsunehiko legte seine Schwerter auf ein Regal, auf dem bereits die Waffen der anderen Gäste lagen. Sano jedoch zögerte, die Hand am Griff seines langen Schwerts. Was war, wenn der geheimnisvolle Beobachter ihnen während der Nacht einen Besuch abstattete?
»Ihr könnt Eure Waffen unbesorgt hier lassen, Herr«, sagte der Wirt. »Sie sind hier vollkommen sicher. Ryokan Gorōbei hat seinen eigenen Nachtwächter!«
»Nichts gegen Euer Gasthaus, Herr Wirt, aber ich würde meine Waffen lieber mit aufs Zimmer nehmen«, erwiderte Sano.
»Gewiß, Herr.« Gorōbei nickte und führte sie durch einen kleinen, gepflegten Garten zu den Gästeunterkünften. Er stieg eine kurze Treppe zu einer schmalen Veranda hinauf und schob eine Tür auf. Das Zimmer dahinter war gerade groß genug, daß zwei Männer darin schlafen konnten, und spärlich ausgestattet, aber
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