Der Kirschbluetenmord
das Mädchen, das Bettzeug auszulegen. Dann warf er sich seinen Umhang über und nahm seine Schwerter.
»Ich gehe mal kurz an die frische Luft«, sagte er zu Tsunehiko. Er wollte seinen Schreiber nicht verängstigen, doch ein letztes Mal an diesem Abend wollte er nach dem Beobachter Ausschau halten, um sich zu vergewissern, daß sie die Nacht in Sicherheit verbringen konnten.
Sano umrundete den Hof, auf dem es still geworden war, da die abendlichen Zechgelage geendet hatten und die Gäste sich fürs Zubettgehen bereit machten. Er warf einen Blick auf die menschenleere Straße. Vor einigen Schänken und Teehäusern brannten noch immer Laternen. Auf dem Rückweg zu seinem Zimmer begrüßte Sano den Nachtwächter, eine jüngere Ausgabe Gorōbeis, offenbar der Sohn des Wirts. Sonst war niemand zu sehen. Auch die bedrohliche Präsenz des geheimnisvollen Beobachters konnte Sano nicht mehr spüren. Lag es daran, daß die Erschöpfung seine Empfänglichkeit einschläferte?
Zurück auf seinem Zimmer, schloß Sano die Türen und Fenster ab. Stirnrunzelnd betrachtete er die dünnen hölzernen Riegel, die eher dazu geeignet waren, ein Gefühl der Ungestörtheit zu vermitteln, als Sicherheit zu bieten. Tsunehiko lag bereits schlafend am Boden. Sein fetter Körper war vollkommen unter einer Decke verborgen; nur der kahlrasierte Scheitel schaute hervor. Das Schnaufen und Keuchen, das er tagsüber von sich gab, hatte sich in ein leises Schnarchen verwandelt. Sano zog seinen Umhang aus, legte die Schwerter ab und löschte die Lampen. Er legte sich auf seinen Futon und zog sich die Decke über. Schläfrigkeit überkam ihn, und wie aus weiter Ferne hörte er das leise Geräusch der hölzernen Rassel des Nachtwächters, das besagte: »Alles in Ordnung.« Dennoch schob Sano die Hand unter der Decke hervor zu den Waffen, die neben seiner Schlafstelle lagen. Mit der letzten bewußten Bewegung packte er den Griff seines langen Schwerts und zog es aus der Scheide.
Sano schlief.
Im Garten des Ryokan-Gorōbei-Gasthofes wartete der Beobachter unter den ausladenden Ästen einer Kiefer. Als Mitternacht heranrückte, waren in sämtlichen Gästezimmern die Lampen erloschen. Die Herberge, der Hof und der Garten lagen in fast völliger Dunkelheit; nur vom klaren, sternenübersäten Himmel fiel ein Hauch diffusen Lichts. Sträucher und Gebäude ragten schwarz und düster über den Gehwegen empor, auf deren Kies der matte, silbrige Schein des Sternenhimmels schimmerte. Allein der ruhelose Wind erfüllte die Nacht mit Leben; er rüttelte an den erloschenen Papierlaternen und raschelte in den winterkahlen Ästen der Bäume.
Dann erklang das knirschende Geräusch von Schritten auf dem Kies des Gehwegs. Ein gelbes Licht umrundete einen Flügel der Gästeunterkünfte des Ryokan Gorōbei. Der Nachtwächter erschien, die Laterne an einem Lederriemen über den Arm geschlungen, die Rassel in den Händen. Unter der Schärpe steckte eine klobige Holzkeule. Noch immer machte der Mann seine Runden – pausenlos, wie schon seit Sonnenuntergang. Er schlenderte an den verschiedenen Flügeln und Nebengebäuden des Gasthofs vorbei und blieb neben jeder Tür kurz stehen.
Im Licht der Laterne konnte der Beobachter das runde, gutmütige Gesicht des Nachtwächters unter dem Strohhut erkennen. Er sah, wie der Mann näher kam und sein Atem in der frostigen Luft zu weißen Wölkchen kondensierte. Der Beobachter stand vollkommen reglos da und richtete die ganze Kraft seines Willens darauf, mit dem Baum zu verschmelzen. Doch er hatte keine Angst, entdeckt zu werden. Er beobachtete den Nachtwächter inzwischen lange genug, um zu wissen, daß der junge Mann nur bei jeder dritten Runde hier vorbeikam; nach den anderen beiden Runden schaute er nur von der gegenüberliegenden Seite aus flüchtig in den Garten hinein. Auch diesmal drehte der Wächter sich um, ohne den Beobachter bemerkt zu haben, und ging durch das Tor zurück auf die Straße, um seine Runden fortzusetzen. Einige Zeit später waren die Schritte des Nachtwächters wieder zu hören; das Licht seiner Lampe kam erneut um die Gebäudeecke, und der gesamte Vorgang wiederholte sich.
Diesmal jedoch erfüllte der Anblick des Nachtwächters den heimlichen Beobachter mit loderndem Zorn. Wie sollte er in Sanos Zimmer kommen – und wieder hinaus –, ohne daß dieser elende Dummkopf ihn sah? Der Beobachter überlegte, daß er sich der Zimmertür nähern konnte, wenn der Nachtwächter auf der Straße war oder hinter
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