Der Klabautermann
Für einen ›Blinden‹ bliebe noch ein Versteck bei mir übrig: Ein größerer Abfallbehälter.«
Dornburg zog ein saures Gesicht und winkte ab. »Geschenkt! Leg dich wieder hin, Lutz, ärgere dich nicht und schlaf weiter. Den großen Ärger haben wir ja. Nirgendwo auch nur eine Spur … Junge, ist das ein raffiniertes Kerlchen!«
»Und wenn es gar kein ›Blinder‹ ist, Hellmut?«
»Wer sonst?«
»Der Klabautermann«, fiel der Matrose ein und grinste wieder impertinent.
Dr. Schmitz bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick und schob dann nachdenklich die Unterlippe vor.
»Ein Passagier.«
»Warum sollte ein Passagier …«
»Ein irrer Passagier.« Dr. Schmitz hob die Schultern. »Wer weiß es? Wer kann in einen Menschen hineinsehen? Nach außen kann er aussehen wie jeder von uns, normal, unauffällig, freundlich, einer unter sechshundert … und plötzlich bricht bei ihm der Wahnsinn durch und er schlägt irgendwo auf dem Schiff völlig sinnlos zu. So was ist doch möglich.«
»Lutz, das wäre fürchterlich. Ein Wahnsinniger auf dem Schiff, kannst du überhaupt ahnen, was dann passiert? Wie sich die anderen Passagiere benehmen, vor allem die Frauen? Ein Schiff volle Hysteriker, das wäre eine kleine Hölle.«
»Und was sagt der Kapitän?«
»Er schnaubt Feuer wie ein Drachen. Er will den ›Blinden‹ sehen.«
»Und morgen früh steht ihr vor ihm und müßt melden: Schiffsdurchsuchung negativ. Nichts gefunden.«
»Das wird noch ein heißer Tag … morgen … Schlaf wenigstens du gut, Lutz.«
»Danke, Hellmut.«
Dr. Schmitz wartete, bis Dornburg und der Matrose das Hospital verlassen hatten. Dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte und was auch nicht üblich war: Er schloß die Eingangstür ab. Schwester Emmi sah ihm aufatmend zu.
»Zufrieden?« fragte er und lächelte.
»Ja … Warum …«
»Ich sehe es Ihren Augen an, Emmi: Sie haben Angst.«
»Das … das stimmt, Herr Doktor.«
»Vor einem irren Passagier?«
»Nein … vor dem Klabautermann …«
»O Himmel! Sie auch?« Dr. Schmitz schlug die Hände zusammen. »Das ist ja wie eine infektiöse Epidemie! Was hilft denn da? Beten …?«
Wortlos, tief beleidigt, ließ Schwester Emmi Dr. Schmitz stehen und ging in ihr Zimmer. Am Zuknallen der Tür konnte man ablesen, wie erregt sie war. Seit zwanzig Jahren fuhr sie bereits auf verschiedenen Schiffshospitälern zur See, fünf Jahre jetzt auf diesem Schiff, aber so wütend wie diese Nacht hatte sie noch niemand gesehen.
»Na denn!« sagte Dr. Schmitz und ging zurück in seine Offizierskabine, warf den Bademantel auf einen Stuhl und stieg wieder ins Bett.
Aber so sehr er sich bemühte, wieder einzuschlafen … es wollte nicht gelingen. Der Gedanke an einen irren Passagier hielt ihn wach. Und die Frage: Was wird auf dem Schiff noch alles passieren?
Es waren keine angenehmen Gedanken.
Eduard Hallinsky besaß eine Eigenschaft, für die ihn seine Angestellten schon oft verflucht hatten: Er war Frühaufsteher.
Ganz gleich, wann er ins Bett ging, ob schon um 22 Uhr oder drei Uhr morgens – pünktlich um halb sechs wachte er auf, gähnte kräftig, kratzte sich den Bauch, schob sich aus dem Bett, latschte zur Toilette, blieb dort zehn Minuten hocken – er nannte das ›abprotzen‹ –, duschte sich dann, zog sich an, trank zwei Tassen Kaffee mit Sahne und Süßstoff, aß eine Scheibe Vollkornbrot mit Schwartenmagen oder Blutwurst und saß um sieben Uhr früh hinter seinem Schreibtisch, eine Stunde früher als jeder seiner Angestellten. Jeden Morgen, ob Sommer oder Winter, ob Glatteis oder Wolkenbruch. Um acht Uhr ging er durch alle Büros und überzeugte sich, ob jeder an seinem Schreibtisch saß. Um neun Uhr trank er einen Kognak. Um halb zehn bestellte er eine seiner vier geliebten Sekretärinnen zu sich und war dann eine Stunde lang nicht zu sprechen.
Jeden Tag! Donnerwetter!
Hallinsky behauptete, das allein halte ihn jung, und wer den Fünfzigjährigen betrachtete, mußte ihm mit Abstrichen recht geben. Er war noch elastisch, nur der Bauch störte das Bild.
Seine Frau schlief meistens bis acht, die Kinder – soweit man einen Dreiundzwanzigjährigen und eine Neunzehnjährige, sie studierten beide, noch Kind nennen kann – richteten ihre Bettruhe nach den täglichen Gegebenheiten ein; kurzum: Wenn Hallinsky am Abend nach Hause kam, sah sich die Familie zum erstenmal an diesem Tag.
Dann konnte es vorkommen, daß Hallinsky schlicht sagte: »Wieder sieben Abschlüsse!«, womit er sieben
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