Der Klabautermann
dagegen wehren würde, aber der Leitende Erste war klug genug, diesen Spott tapfer hinunterzuschlucken. »Eins dürfte nun sicher sein«, Hellersens Stimme wurde wieder scharf, »daß wir an Bord jemanden haben, der uns alle auf den Arm nimmt. Der mit einem genau durchdachten Unsinn Unruhe in das Schiff bringen will. Fast gelingt es ihm. Fast! Aber nicht mit mir, ich bin die Ruhe selbst!« Er bewies die kühne Behauptung, indem er plötzlich losbrüllte: »Die Ruhe selbst! Ich verliere nie die Nerven. Nie!« Hellersen schwieg abrupt, atmete wieder tief auf und sprach in normaler Lautstärke weiter. »Meine Herren, ab sofort werden alle Wachen um das Doppelte verstärkt. Ob an Deck, unter Deck, in der Maschine, in den Bunkern: überall äußerste Wachsamkeit. Nächtliche Streifengänge nicht nur von den Sicherheitskontrollen, sondern innerhalb sämtlicher Abteilungen!« Hellersen ließ seinen Blick über alle Anwesenden gleiten, und jeder fühlte sich damit angesprochen. »Es muß doch möglich sein, diesen Burschen zu erwischen! Wir leben hier auf engstem Raum zusammen. Zweihundert Meter lang, achtundzwanzig Meter breit … zum Teufel, das kann man doch übersehen! Es ist beschämend, daß wir noch so hilflos herumstehen!«
»Die Phantasie eines Irren ist oft genial.« Dr. Schmitz war natürlich derjenige, der das letzte Wort hatte, die anderen wollten schon die Kapitänswohnung verlassen, froh, halbwegs ungeschoren den Auftritt überstanden zu haben.
»Sie bleiben also dabei, Doktor: Das ist ein Irrer und kein ›Blinder‹?«
»Ganz vom Logischen her, Herr Kapitän. Ein ›Blinder‹ wird alles versuchen, um nicht aufzufallen. Was aber geschieht hier? Ein Streich nach dem anderen.«
Hellersen hob etwas hilflos die Schultern. Auf solche Fragen gab es hier keine Antworten. »Und woran erkennen Sie einen Irren?« fragte er.
»Auf Anhieb überhaupt nicht.« Dr. Schmitz sprach damit die ärgste Befürchtung Hellersens aus. »Nur wenn wir ihn ertappen und dann verhören, wird das Bild seiner Krankheit klar. Aber so …« Er machte eine hilflose Bewegung. »Wir können doch nicht sechshundert Passagiere und dreihundertfünfzig Mannschaftsmitglieder in Reihe untersuchen.«
»Einen haben Sie schon weniger, Doktor!« sagte Hartmann und versuchte ein Lachen. »Mich …«
»Sagen Sie das nicht!« Dr. Schmitz grinste zurück. »Das muß ich erst diagnostizieren.«
»Kann ich mir selbst eine Taurolle auf den Kopf werfen?«
»Bei einem Verrückten ist alles möglich.«
»Danke, Doktor«, sagte Hartmann giftig.
»Gern geschehen.« Er sah den Kapitän an und dann demonstrativ seine Armbanduhr. »Kann ich jetzt gehen? Mittlerweile werden im Hospital zwanzig Patienten warten.«
Hellersen nickte knapp. »Ich danke Ihnen, meine Herren. Hat noch jemand eine Frage?«
Keiner antwortete. Natürlich nicht. Bloß keine Frage! Nur schnell weg aus dieser geladenen Luft. Sie machten kehrt und drängten hinaus. In der Tür aber hielt ein Zuruf den Leitenden Ersten zurück.
»Hartmann, bleiben Sie bitte!«
Mit einem inneren Seufzen kam Hartmann in die Kapitänswohnung zurück.
»Herr Kapitän …?«
Hellersen wartete, bis sich die Tür hinter dem Letzten – Dr. Schmitz – geschlossen hatten. Dann bot er Hartmann einen Zigarillo an und sah zu, wie sein Erster ein paar hastige Züge machte. Ja, so ist es, dachte Hellersen. Wir alle sind bis zum Zerreißen nervös.
»Ich grübele die ganze Zeit hin und her«, sagte er nachdenklich. »Wie kann ein BH an das Flaggenseil kommen? Grundsätzlich: Kein Passagier hat Ahnung, wie man so ein Seil einholt und wieder aufspannt. Vor allem fehlt ihm der Schlüssel zur Elektrowinde. Der Schutzkasten für die Schaltung ist unbeschädigt, also nicht aufgebrochen. Und trotzdem hängt der BH oben. In der Mitte! Zwischen den Fähnchen! Das soll mir mal einer erklären.«
»Sie denken, daß jemand von der Mannschaft …?« Hartmann pfiff durch die Zähne.
»Wäre das so unmöglich?«
»Aber warum, Herr Kapitän?«
»Um mit den Worten des Doktors zu sprechen: Weil er verrückt geworden ist.«
»Auf einmal? So plötzlich?«
»Irrsinn bricht oft ganz plötzlich aus. Da geht einer normal ins Bett und wacht als Verrückter auf; das hat man oft schon gehört. Und es gibt kaum Erklärungen dafür: Viren, seelische Belastungen, Verkalkungen …«
»Wir haben keine Verkalkten in der Mannschaft, Herr Kapitän. Alles stämmige Kerle, und wir kennen sie alle von vielen Fahrten her. Ich halte das für
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