Der Klang der Sehnsucht - Roman
glatt. »Gönn dir mal eine Pause, Ashwin. Ich komme schon zurecht.«
Die Sonne schien ins Zimmer. Der Guruji rollte das Moskitonetz an einer Seite auf und band es an den Bettpfosten fest, damit die Morgenluft den Geruch nach Krankheit vertrieb.
»Guruji?«
»Ich bin hier.«
»Mir ist so heiß.«
»Du hast Fieber, mein Sohn. Ruh dich aus. Ich werde dir die Geschichte von Tansen erzählen. Auch er hatte schreckliches Fieber zu erdulden.«
»Ja, bitte«, flüsterte Kalu. Der Guruji hatte ihm keine Geschichte erzählt, seit er klein war. Die von Tansen, dem genialen Musiker, hatte ihm immer besonders gefallen.
Der Guruji legte Kalu ein kühles, feuchtes Tuch auf die Stirn.
»Aber von Anfang an, Guruji, nicht erst als das mit dem Fieber passierte.« Kalus Stimme brach.
Der Guruji richtete ihn auf und führte ein Glas Wasser an seine Lippen, ehe er fortfuhr. Er räusperte sich. »Die Geschichte beginnt in Gwalior, einer Stadt in der Mitte Indiens.« Der Guruji sprach mit ruhiger und sanfter Stimme.
»In dieser Stadt lebten der Dichter Mukund Mishra und seine Frau. Sie wünschten sich schon lange verzweifelt ein Kind. Deshalb suchte Mishra den berühmten Heiligen und Musiker Mohammed Ghaus auf, um seinen Segen zu erbitten. Dieser band eine heilige Schnur um Mishras Arm und verhieß ihm einen Sohn. Neun Monate später kam Tansen zur Welt. Das wissen wir. Tansen wuchs auf wie ein ganz normaler Junge. Seine Lieblingsbeschäftigung war es, mit Freunden in den nahe gelegenen Wald zu gehen, um die Stimmen der Vögel und Tiere zu imitieren. Eines Tages zog eine Gruppe von Sängern durch den Wald. Tansen versteckte sich im Gebüsch und brüllte wie ein Tiger. Die Sänger bekamen es mit der Angst zu tun. Als der Jun
ge sich zu erkennen gab, lobte ihn der Anführer der Gruppe für sein täuschend echtes Gebrüll. Dergestalt ermutigt, gab Tansen noch mehr Tier- und Vogelstimmen zum Besten. Der Anführer jedoch war der berühmte Meister Haridas. Er war so beeindruckt von Tansens Darbietung, dass er sich erbot, ihn als seinen Schüler anzunehmen. ›Er hat großes musikalisches Talent‹, erklärte Haridas Tansens Vater. Tansen wurde nach Vrindaban geschickt, um bei Haridas zu lernen, und er blieb fast zehn Jahre bei ihm.
Genau wie du, Kalu, begann er mit den grundlegenden Tönen. Er lernte singen und Tanpura spielen. Er lernte die verschiedenen Ragas und dass jeder Raga eine andere Stimmung schafft. Das wissen wir.
Eines Tages erhielt Tansen die Nachricht, sein Vater liege im Sterben. Tansen eilte sofort zurück nach Gwalior, aber er kam zu spät. Er erfuhr, der letzte Wunsch seines Vaters sei gewesen, dass er fortan bei Mohammed Ghaus, dem heiligen Musiker, dem er seine Geburt verdankte, in die Lehre gehe.
Natürlich hatte Tansen andere Sorgen, vor allem musste er an seine Mutter denken. Er blieb bei ihr, um sich um sie zu kümmern, doch sie starb innerhalb eines Jahres.
Nun war Tansen frei, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Er blieb in Gwalior, um bei Mohammad Ghaus zu lernen. Sein neuer Lehrer stellte ihn König Ramachandra vor, an dessen Hof er Husani kennenlernte. Sie gehörte zu den Frauen, die dem König aufwarteten. Husani bedeutet ›die Schöne‹. Tansen verliebte sich in sie, und sie heirateten. Ich weiß nicht, ob sie ihn auch liebte und ob sie so schön war, wie ihr Name es verhieß, aber ich würde es gern glauben.«
Kalu schloss die Augen. Sein Atem wurde regelmäßiger.
»Tansen wurde Hofmusiker. Eines Tages kam Kaiser Akbar zu Besuch. Er war so begeistert von Tansen, dass er ihn einlud, an seinen Hof zu kommen.
Ramachandra war der geringere König, weshalb er es sich nicht
erlauben konnte, den mächtigen Akbar zu verärgern, also ging Tansen nach Agra.
Dort wurde er königlich begrüßt, und Akbhar nahm ihn in seine Navratna – seine neun Juwelen – auf, so nannte er die besten Künstler an seinem Hof.
Tansens Ruhm verbreitete sich nah und fern. Doch es hatte nicht nur Vorteile, ein Günstling Akbars zu sein. Zahlreiche Höflinge neideten Tansen seinen Erfolg, und einige schmiedeten ein Komplott, um ihn zu Fall zu bringen. Sie überredeten Akbar, Tansen zu befehlen, den Raga Dipak zu singen.
Der Dipak war und ist einer der am schwierigsten zu singenden Ragas. Sie hofften, dass Tansen ihn entweder nicht richtig singen konnte und sich blamieren würde oder aber dass bei einer gelungenen Darbietung so viel Hitze entstehen würde, dass nicht nur die Lampen sich entzünden würden, sondern
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