Der Klang der Sehnsucht - Roman
auf die Hinterbeine gestellt hatten, um besser an die Leckerbissen heranzukommen.
Ein paar von ihnen flatterten auf, als ein kleiner Junge sich zu ihnen gesellte. Der Lederriemen von Kalus Champal scheuerte an seinem vernarbten Knöchel. Sein Fuß juckte. Er blieb stehen, gab dem Jungen ein paar Paise und marschierte weiter, ohne auf ihn zu achten.
Er musste daran denken, wie Bal und er früher einmal Jagd auf die Ziegen gemacht hatten. Bevor Kalu sich am Knöchel verletzt hatte und lange bevor er fortgegangen war, um bei seinem Lehrer zu leben. Bal hasste die Ziegen, denn sie waren darauf aus, seinen Büffeln die frischesten Schösslinge vor der Nase wegzufressen. Dabei liefen sie ihnen ständig zwischen die Beine, so dass sie brüllten und ausbrachen.
»Mach dir nichts draus«, sagte Kalu, »die schnappen wir uns und bringen ihnen Manieren bei. Dann werden sie sich hüten zu klauen.«
»Ja aber wie sollen wir das denn machen, Yar? Ihre blöden Besitzer erwischen uns bestimmt, und dann sitze ich in der Klemme.« Bal kickte einen langen Stock über den Boden, während Kalu neben ihm her hüpfte.
Als Junge war Kalu immer nur gesprungen oder gerannt. Im Gegensatz zu Bal, der stets ging. Er war Kalu damals so erwachsen und klug erschienen. Sein Freund hatte Arbeit, Unterkunft und Essen und gab sich dennoch mit einem Jungen wie ihm ab.
An jenem Tag stahlen die beiden halbgetrocknete Dungfladen aus einer Hütte an der Straße. Kalu lenkte das Mädchen ab, das in der Hütte wohnte, während Bal die Fladen in sein Hemd steckte. Das Mädchen winkte ihnen zum Abschied sogar noch zu, und die Jungen platzten fast vor unterdrücktem Gelächter, als sie davonrannten.
Den Nachmittag verbrachten sie damit, mit dem Dung nach
den Ziegen zu werfen und in Jubelschreie auszubrechen, wenn die Klumpen auf dem Rücken der Tiere zerbarsten. Kalu war überzeugt, dass keine Ziege sie jemals wieder verfolgen würde, nachdem sie sie derart entwürdigt hatten.
Als Kalu nun an den Ziegen vorbeiging, dachte er an den erdigen, strengen Geruch des mit Stroh gemischten Kuhdungs. Dieser Geruch hatte ihn früher immer daran erinnert, dass er nicht allein war. Aber jetzt war niemand mehr da, der diese Erinnerung mit ihm teilen konnte. Kalu sammelte ein paar Steine auf und schleuderte sie in hohem Bogen auf die Ziegen. Dann setzte er, gefolgt von empörtem Gemecker, seinen Weg fort.
*
Einige Stunden später fand Malti ihn am Fluss. Sie legte ihm seine Flöte in die Hand. Die Rosenholzflöte, die er damals in dem verborgenen Tempel entdeckt hatte. Die er von sich geworfen hatte, als Bal starb. Er fragte nicht, woher sie sie hatte.
»Du kannst sie behalten«, sagte er und starrte hinüber auf das ausgedörrte, rissige Ufer. Sein Blick schweifte zu den steilen Klippen auf der anderen Seite. Im Schatten hatten sie die Farbe von Kandis, und wo die Sonne auf die zerklüfteten Ränder brannte, waren sie von flammendem Orange. Sie waren nun eine ewige Grabstätte, und er wandte den Blick ab. »Ich will sie nicht mehr.«
»Und was soll ich damit?«, fragte Malti und ging neben ihm in die Hocke. »Ich kann nicht spielen. Und sonst auch niemand. Sie gehört dir, Kalu.« Sie legte die Flöte vor Kalu auf den Boden. Er sah weder sie noch die Flöte an.
Malti begriff, dass sie das Schweigen brechen musste. »Sieh mal, du musst weitermachen.«
»Wieso?«
»Was soll das heißen, wieso? Weil es eben so ist. Alle tun das. Wir Menschen haben keine andere Wahl.« Sie sprach jetzt lau
ter. »Sei dankbar für das, was du hast. Bal hätte das so gewollt, genau wie …« Malti brachte den Satz nicht zu Ende.
Kalu fiel ein, dass er mit Malti etwas hatte besprechen wollen, aber es war alles so weit fort. Ihre Worte erschienen ihm ebenso unwirklich wie alles andere um ihn herum. Sie stand auf und drückte seine Schulter. So fest, dass er ihre einzelnen Finger spürte.
»Ich bin spät dran. Ich muss gehen. Denk dran, dass du kein Gott bist. Du kannst nicht für alles die Verantwortung übernehmen. Bal ist gestorben, aber du lebst. Mach etwas daraus.«
Malti ging fort, ohne die Tränen zu sehen, die ihm übers Gesicht rollten.
»Kalu.«
Er hob den Kopf, als er seinen Namen hörte. Nur ein Mensch sprach in diesem Tonfall mit ihm. So zerschlagen, wie er sich fühlte, bildete er sich die Stimme sicher nur ein. Der Guruji konnte nicht hier sein. Keine zehn Pferde würden ihn nach Hastinapore bringen.
»Kalu.« Der Guruji nahm Kalu in die Arme, drückte ihn an sich
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