Der Klang der Sehnsucht - Roman
und brachte wieder Leben in Kalus zitternden Körper. »Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen, mein Sohn. Deine Taschen sind gepackt. Vaid Dada wird noch bleiben und erledigen, was er noch zu erledigen hat. Ich nehme dich mit nach Hause.«
»Warum sind Sie hier? Sie fahren doch nie irgendwohin.«
»Weil du mich brauchst, mein Sohn.«
Der Junge lehnte sich gegen den Mann, der ihn stützte und nach Hause brachte.
*
Kalu saß auf dem Rücksitz des Jeeps. Seinen Roller stellten sie bei Ganga Ba unter. Der Guruji saß schweigend neben ihm. Als sie eine Rast machten, musterte der Guruji den Jungen an seiner Seite. Aus dem Kind war ein Mann geworden.
Er wusste, dass Kalu durch das, was auf der Klippe geschehen war, durch den Verlust seines Freundes, als Musiker gereift war. Sein Spiel musste sich verändert haben, als er seine ganze Seele hineinlegte, es war tiefer geworden, umfasste nun mehr als nur Töne. Er hatte durch diesen Moment gewonnen, und das war es, was Kalu sich niemals vergeben würde.
Der Guruji dachte an den kleinen Jungen, der so viel Schneid und Entschlossenheit gezeigt hatte, als er zu ihm kam. Aber nun war Kalu kein Schüler mehr. Am Fuß der Klippen hatte er seine letzte und wichtigste Lektion erhalten. Die, die ihn zu einem wahren Musiker machen würde.
Der Guruji reichte ihm ein Glas Tee. »Liebe ohne Schmerz gibt es nicht. In der Musik wie in der Freundschaft wirst du Glück und Leid finden. Das erst macht uns zu ganzen Menschen.«
Kalu wärmte seine kalten Hände an dem Glas. Es fiel ihm unsagbar schwer, davon zu trinken.
»Du hast etwas ganz Besonderes getan. Du hast Bal so lange am Leben erhalten, dass er deine Liebe fühlen konnte. So war er nicht allein.«
Kalu schüttelte den Kopf.
Der Guruji legte ihm die Hände auf die Schultern. »Hör zu.« Er sprach leise. Was er sagte, war nur für Kalus Ohren bestimmt. »Spiel oder spiel nicht. Es liegt an dir. Aber töte nicht deine Fähigkeit zu lieben. Mach nicht den gleichen Fehler wie ich. Lass dir Zeit bei deiner Entscheidung, hör auf dein Herz. Weder Macht noch Schmerz sollte deine Triebkraft sein. Es ist in Ordnung, wenn du nie mehr spielst. Du wirst immer ein Zuhause haben. Bei mir.«
»Ihren Fehler?« Es war das erste Mal, dass Kalu etwas sagte, seit der Guruji ihn abgeholt hatte.
Sein Meister blickte durch die Bäume in die Ferne. »Ich war jung, dumm und eingebildet. Mir lag mehr an den Huldigungen vieler Menschen als an der Liebe eines Menschen. Sie lag in den Armen meines Bruders und rief weinend meinen Na
men, während ich auf einer der berühmtesten Bühnen der Welt auftrat. Eigentlich hätte es meine größte Stunde sein sollen. Stattdessen war es meine finsterste. Sie verließ mich in jener Nacht, und mit ihr verließ mich die Musik.«
»Sie haben aufgehört?«
»Nein, Kalu. Das war mein großer Irrtum. Ich dachte, ich hätte die Musik aufgegeben, aber in Wirklichkeit gab sie mich auf. Auf einmal konnte ich nicht mehr vor Publikum spielen. Alles was ich von nun an sah, war ihr Gesicht.« Der Guruji schüttelte die Erinnerung ab. »Bestrafe dich nicht für etwas, das vor deiner Geburt bestimmt wurde. Man kann die Vergangenheit nicht ändern. Du wirst Bal niemals vergessen. Niemals vergessen, wie er gelitten hat. Ich weiß, dass alles, was ich sage, im Augenblick keine Bedeutung für dich hat. Aber wie deine Erfahrungen dich verändern, hängt von dir selbst ab.«
*
Das Zimmer war abgedunkelt. Nur ungenügend überdeckte die Sandelholzpaste den süßlich-klebrigen Geruch nach Schweiß, der das Zimmer erfüllte. Kalu war selten krank, aber das Fieber hatte einen kritischen Punkt erreicht, als der Guruji mit ihm zu Hause ankam. Ashwin war überzeugt, dass es ebenso seelischer wie körperlicher Natur war. »Alles, was wir tun können, ist ihn pflegen und zur Stelle sein, wenn er uns braucht«, hatte der Guruji gesagt.
Ashwin streckte sich und gähnte. Er öffnete die Fensterläden gerade weit genug, um etwas Licht und frische Luft hineinzulassen. Endlich ging die Sonne auf, und Vaid Dada würde bald hier sein.
»Erzähl mir eine Geschichte.« Kalus Stimme klang weich und schwer, die Konsonanten verschwammen an den Rändern und erinnerten Ashwin an Kalus Anfangszeit im Haus. Er legte seine Hand auf die noch immer glühend heiße Stirn des Jungen, als der Guruji leise in der Tür innehielt.
»Ich werde dir eine Geschichte erzählen, Kalu, derweil Ashwin sich etwas ausruht.« Der Guruji zog die zerwühlte Decke
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